In der Türkei ereignet sich derzeit ein dramatischer Übergang von einer - immerhin über lange Zeit leidlich funktionierenden - Demokratie zu einer Diktatur. Bis auf Weiteres wird sich diese Entwicklung dort nicht umkehren lassen. Blickt man zudem auf die Verhältnisse in Russland, Ungarn oder Polen, so scheint die Demokratie als Regierungsform gegenwärtig durchaus gefährdet zu sein. Daran heftet sich unmittelbar eine weitere Kernfrage, die uns westliche Insulaner inmitten einer immer turbulenteren politischen Umwelt mehr als bisher beschäftigen sollte. Sie lautet: Wie gefährdet sind die westlichen Kernländer der Demokratie?
Es gibt eine aus der Geschichte bekannte Konstellation, die für eine Demokratie besonders gefährlich ist. Sie entsteht dann, wenn sich auf ihrem Boden extremistische Kräfte bilden, die sich einerseits gegenseitig bekämpfen, die am Ende aber auch die Demokratie selbst treffen wollen. Fast alle europäischen Demokratien in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sahen sich einem solchen Zweifronten-Konflikt gegenüber.
Das gleichzeitige Aufkommen starker kommunistischer und extrem nationalistischer Bewegungen erzeugte eine latente Bürgerkriegsatmosphäre und verengte den Handlungsspielraum der Demokraten. Zugleich brachte dies vor allem auf Seiten der politischen Rechten neue Gefahren mit sich: die Versuchung nämlich, aus der Konstellation Kapital zu schlagen und mit Extremisten zum Zwecke der eigenen Machterweiterung zu kollaborieren.
Entwicklung westlicher Gesellschaften zu Einwanderungsgesellschaften schafft Verunsicherung
Die meisten der europäischen Demokratien brachen bis in die Dreißigerjahre zusammen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie immer weniger mutige Freunde hatten. Wer die Demokratie kompromisslos verteidigte, musste der Gewalt weichen. Selbst Frankreich war bei Kriegsausbruch 1939 politisch weitgehend gelähmt und ideologisch zutiefst gespalten. Dass das Mutterland der europäischen Demokratie 1940 dem Ansturm der Truppen Hitlers fast widerstandslos erlag, ist alles andere als reiner Zufall.
Nach 1945 blieb den westlichen Demokratien eine vergleichbare Zweifrontenkonstellation erspart, was nicht zuletzt mit der globalen Systemlogik des Kalten Kriegs zusammenhing. Zwar fehlte es nicht an radikalen Herausforderungen und Gefährdungen der Demokratie, aber sie blieben entweder ohne breite Unterstützung oder kamen nur von einer Seite. Am aufregendsten waren noch die Sechzigerjahre. Aber der Ansturm einer starken sozialen Bewegung von links blieb überwiegend in verfassungskonformen Bahnen, und den durchaus vorhandenen extremistischen Tendenzen standen letztlich doch keine vergleichbaren extremistischen und demokratiefeindlichen Kräfte von rechts gegenüber.
Heute stellt sich die Situation grundlegend anders dar. Seit den Achtzigerjahren haben sich die westlichen Gesellschaften gewandelt. Zumindest in ihren Ballungszentren sind sie unter dem Einfluss der Globalisierung zu multikulturellen Einwanderungsgesellschaften geworden. Das ist nicht mehr zu leugnen. Und die Frage, ob der Islam denn nun zu Europa (oder zu Deutschland) gehöre, ist im Kern falsch gestellt. Denn wer sie angesichts von mehr als 15 Millionen Muslimen in der Europäischen Union verneinen wollte, würde die Realität verkennen. Andererseits ist schon seit den Achtzigerjahren erkennbar, dass der Wandel neue Verunsicherungen erzeugt.
Populismus:Magie der harten Führer
Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug. Starke Führer wie Putin oder Erdoğan erringen Erfolge. Was die vom Cäsarenwahn umflorten National-Autoritären so attraktiv macht.
Besonders gefährlich wird es, wenn sich konkurrierende extremistische Kräfte etablieren
Das für jede Demokratie bedeutsame Verhältnis von Staat, Nation und Individuum ist deutlich komplizierter geworden. Und die für die modernen Massengesellschaften so zentralen Fragen nach Komplexität und Identität stellen sich neu. Denn wenn die Welt komplexer und undurchsichtiger wird, dann steigen auch die Identitätsunsicherheiten.
Zugleich steigt die Gefahr des Extremismus. Historisch betrachtet, schlägt seine Stunde vor allem dann, wenn drei Voraussetzungen zusammenfallen: wenn - erstens - Identitäten noch nicht gesichert sind oder erst etabliert werden müssen; wenn - zweitens - bestehende Identitäten kultureller Veränderung ausgesetzt sind und damit als akut bedroht empfunden werden; und wenn - drittens - zur Identitätsunsicherheit ökonomisch begründete, soziale Statusunsicherheit tritt.
All das ist in den westlichen Demokratien seit den Achtzigerjahren der Fall, in jüngster Zeit jedoch verstärkt wirksam. Mehrere Bewegungsrichtungen kommen dabei zusammen: Im radikalen Islamismus haben sich Formen der Identitätskonstruktion durchgesetzt, die mit ihrer quasi-religiösen und antiwestlichen Ideologie die Welt mit Gewalt in ein Freund-Feind-Schema zwingen wollen. Für die westlichen Demokratien ist diese Form des radikalen Islamismus und seiner terroristischen Aktion eine enorme Herausforderung. Wirklich gefährlich wird die Lage aber dadurch, dass diese Herausforderung auf zutiefst identitätsunsichere Gesellschaften trifft.
Kulturelle Unklarheiten, soziale Statusunsicherheiten und Verlustängste verdichten sich zur Ablehnung von Einwanderung. Alle Vorbehalte und Ressentiments, die ganze "Politikverdrossenheit" und der Populismus, die seit Jahren beklagt werden - all das hat nun einen einzigen Bezugspunkt: einen "Feind", gegen den die Mobilisierung - und Gewaltausübung - so viel einfacher ist als gegen die diffusen Mächte der Komplexität, heißen sie nun Finanzkapitalismus oder Euro-Zone, Globalisierung oder Gemeinsamer Markt. Dieser Feind ist das Fremde, das jetzt den bislang diffus vagabundierenden Hass, der wahrscheinlich in jeder Gesellschaft schwelt, auf sich zieht und auf das die Profiteure des Hasses neuen Hass lenken können.
Das wiederum ist natürlich nichts grundsätzlich Neues. Schon Ernst Moritz Arndt, einer der Vordenker des deutschen Nationalismus, sprach 1813 von der produktiven, ja geradezu zwingenden Notwendigkeit des Hasses. Denn der Hass galt ihm als "Schutzwehr gegen das Eindringen des Fremden".
Gleichwohl sind die westlichen Demokratien heute in einer neuen Situation, die gefährlich zu werden droht. Denn sie haben nicht nur die immer komplexeren Herausforderungen der Daseinsvorsorge zu bewältigen. Sie haben auch nicht nur die Einwanderung zu meistern und zugleich die terroristischen Bedrohungen abzuwehren. Sie müssen sich vielmehr auch des Hasses jener erwehren, für die diese beiden Dinge ein und dasselbe sind.
Wahl in Mecklenburg-Vorpommern:Wo Populisten Wutbürger umschmeicheln
CDU? SPD? Linke? Nicht zu sehen. Im Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern treten vor allem NPD und AfD auf. Als sei sich die Politik-Elite zu fein, den braunen Sumpf persönlich trockenzulegen.
Die Gefährdung der westlichen Demokratie im globalen Zeitalter
Die populistischen Bewegungen in den westlichen Demokratien werden nicht aufhören, mit der Konzentration auf einen "Feind" ihre Chance zu verbessern, Menschen zu mobilisieren und damit die unausweichliche Komplexität der modernen Welt in schändlicher Weise scheinbar zu reduzieren. Und sie werden nicht aufhören, die Demokratie als zu korrupt und zu "volksverräterisch" zu diffamieren, um mit dem "Feind" fertig zu werden.
Und so befinden sich die westlichen Demokratien das erste Mal in der Geschichte der Nachkriegszeit in einem internen Zweifrontenkonflikt, in dessen Verlauf sie von mehreren Seiten propagandistisch angefeindet, aber auch in der Wahlkabine delegitimiert zu werden drohen. Am dramatischsten ist die Situation derzeit in Frankreich, wo sich auf der Basis einer universalistisch verstandenen Demokratie Parallelgesellschaften etabliert haben; wo viel von der "intégration ratée" die Rede ist; wo der Terror vermehrt zuschlägt; wo gesellschaftliche Verlustängste grassieren; und wo inzwischen jeder Dritte seine Stimme dem rechtsextremen Front National geben würde.
Statt von einem globalen Zeitalter der Demokratie zu reden, das nach 1989 für einen Augenblick auf der Tagesordnung zu stehen schien, müssen wir längst eher eine Gefährdung auch der westlichen Demokratie im globalen Zeitalter feststellen.
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Die Geschichte lehrt, dass es Demokraten wenig nützt, mit Demokratiefeinden zu diskutieren
Was also tun? Aus der Geschichte des Extremismus lässt sich etwa die Einsicht gewinnen, dass in einer radikalisierten Situation immer der triumphiert, der am radikalsten ist. Darauf darf man sich also schon mal auf keinen Fall einlassen. Das heißt: keine Übernahme von extremistischen Begriffen und Argumenten in "abgemilderter" Form aus wahltaktischen Überlegungen. Nötig ist stattdessen immer das klare Aufzeigen der demokratisch-rechtsstaatlichen Alternative, die aus sich selbst heraus befriedend und entradikalisierend wirken kann.
Demokraten und der Demokratie verpflichtete Medien sollten daher auch keinen allzu großen Ehrgeiz entwickeln, mit den Feinden der Demokratie zu "diskutieren", sie zu "verstehen". Denn alle historische Erfahrung zeigt: Feinde der Demokratie sind Demokratiefeinde auch deswegen, weil sie sich hinter einer Realitätsverweigerung verschanzt haben. Propagandistisch gefangen in einem Weltbild, das nur noch Freund und Feind kennt, entziehen sie sich dem rationalen Argumentieren und dem ihm zugrunde liegenden Erfahrungswissen.
Worauf wir uns jetzt vielmehr besinnen müssen, ist, dass es tatsächlich schon fünf vor zwölf sein könnte. Dass keine Zeit mehr ist zum Tricksen und Lavieren. Ferner müssen die demokratische Exekutive und Judikative gestärkt werden, denn gerade in Zeiten der Radikalisierung und Unsicherheit ist für eine Demokratie kaum etwas wichtiger als die glaubwürdige Aufrechterhaltung ihres staatlichen Gewaltmonopols. Und zu guter Letzt sollte die Politik Feindbildkonstruktionen bekämpfen - und sich nachdrücklich dazu bekennen, dass es in der Demokratie meist keine einfachen Antworten gibt, aber dass sie die verfassungsgemäße Form der Freiheit ist. Und zwar die einzige, die wir kennen.