Um die große Stärke von Klaus Fenglers Bildband "Expedition. Aufbruch ins Ungewisse" gleich vorwegzunehmen: Es gibt darin einige Bilder, für die es keiner teuren Fototechnik bedarf, aber eines herausragenden fotografischen, unkäuflichen Instinkts. In dem frühen Kapitel "Aufbruch" etwa schaut ein Indiojunge mit seinem Vater am Flussufer sitzend einem Faltkanadier hinterher; in dem Faltkanadier zwei sehr weißhäutige Abenteurer; sie spielen nur die Nebenrolle. Viel wichtiger ist das, was man in dem Blick der beiden Menschen am Flussufer sehen möchte: Sehnsucht? Neid? Oder gar: Mitleid?
Und häufig ertappt sich der Leser im weiteren Verlauf des Buches bei jener für wahre Expeditionen charakteristischen Frage: Will man da wirklich dabei sein?
Allein deshalb hat der Fotograf und Kletterer Fengler vieles richtig gemacht bei diesem ungewöhnlich ehrlichen Bergbuch, für welches schwierige Bergwände und deren Besteigungen zwar als Motivation für den Aufbruch zu Expeditionen dienten, in dem Berge und Kletterszenen aber dennoch selten im Mittelpunkt stehen. Klar, der Versuchung der schnellen Kletterpornografie, in der unter Stöhnen der bloße Kraftakt bis zum Erreichen des Höhepunkts zelebriert wird, verfällt ein in den Siebzigern sozialisierter Bergsportler wie Fengler womöglich nicht mehr. Er widersteht in den Kapiteln "Landschaft" und "Menschen" aber auch dem Reflex der reinen Naturvergötterung genauso wie der Anbiederung an fremde Kulturen. Die Trennlinien bleiben immer deutlich zwischen Besuchern und Besuchten: auf der einen Seite die Zurückgelassenen, ja die Abgehängten, auf der anderen jene, die für den Aufbruch ins Ungewisse schon aufgrund der körperlichen Konstitution und der finanziellen Mittel privilegiert sind.
Der Fotograf zeigt den teilweise irrwitzigen Aufwand seiner Expeditionen
Diese Privileg verdeutlicht sich schon an der immer wieder gezeigten - teils geradezu irrwitzig kostspieligen - Ausrüstung. So stellt Fengler etwa auf einer Doppelseite die Videobrille auf dem Kopf eines Drohnenpiloten dem traditionellem Kopfschmuck eines Samburu in Kenia gegenüber; ein anderes Mal zeigt er einen Karbonschlitten, in dem die Kosten eines Mittelklassewagens stecken. Hier wird die Expedition wahrlich zum Kriegszug, an welchen das lateinische Wort "Expeditio" erinnert. "Oft genug setzt Fengler damit die Absurdität des Expeditionsgeschehens in Szene", schreibt Tom Dauer an einer Stelle.
Dass nicht Fengler selbst, sondern der Journalist Dauer die Texte zu dem Bildband verfasste und ihn damit um eine alpinhistorische wie philosophische Komponente anreichert, indem er Modebegriffe wie Freiheit, Sicherheit und, ja, Vertrauen verwebt, ist der langsam durchsickernden Erkenntnis geschuldet, dass gute Fotografen genauso selten auch gute Schreiber sind, wie wiederum gute Schreiber gut fotografieren können. Dauer ist ein guter Schreiber; vor allem aber ist er sich als Alpinist und Beobachter wie Fengler natürlich der Ironie bewusst, die vielen Expeditionen innewohnt. Werden diese doch gerne unter dem Schlagwort "Verzichtsalpinismus" verkauft, obwohl sie nur mit Hilfe einer Wagenladung an Ausrüstung und der Sponsorenlabel auf den Funktionsjacken funktionieren. Herrlich auch jenes Bild, auf dem zwei Kletterer mittels Zwei-Mann-Hoch erst einmal einen - Sicherheit verheißenden - Bohrhaken in knapp vier Metern Höhe eines Dschungelfelsens setzen.
Dauer schreibt: "Berggeschichten sind Ich-Geschichten." In den allermeisten Fällen trifft das auch zu. Längst dienen ähnliche Bücher wie "Expedition" den bergsteigenden Autobiografen als Werbebroschüre, als Derivat ihrer in Pandemiezeiten selten gewordenen Diavorträge, aber auch als Selbstvergewisserung des eigenen Erreichten. Fenglers Buch aber ist - schon alleine deshalb, weil er anders als viele Bildband-Bergsteiger nicht im Zentrum des Geschehens, sondern hinter der Kamera steht - eben auch eine Ihr-Geschichte: Ihr da draußen, ihr meine Begleiter, ihr Landschaften, und ja, ihr Leser.
Spaß und Triumph sehen anders aus als auf Fenglers Bildern
Manchmal ist es nur ein kleiner Ausschnitt, ein Fuß, eine Hand, die auf den Bildern zu sehen sind und trotzdem eine ganze Geschichte erzählen. Die Protagonisten, darunter Elitekletterer wie Robert Jasper, Stefan Glowacz oder Chris Sharma, wirken häufig mehr wie gebrochene Gestalten als wie die Stars der Steilwand, nicht umsonst gibt es im Buch die Kapitel "Entbehrung", "Warten", "Scheitern". Immer wieder blickt man in leidende, manchmal genervte oder dankbare, aber nie heroisch wirkende Gesichter. Ganz selten ist da etwas Liebliches, oft wird in einem Bild der Wunsch zur Nachahmung geweckt, um gleichzeitig doch wissen zu lassen: Tu das bloß nicht! Dauer schreibt, Fengler wollte "nichts schöner machen, was bereits schön ist. Er romantisiert nicht, was Abgründe hat". Wenn sich der ans Leiden nun wahrlich gewöhnte Kletterer Robert Jasper nach einer Bachdurchquerung auf zwei Stöcke stützt oder eine ganze Gruppe an Durchtrainierten mit Stirnlampen ihre Expeditionsnahrung scheinbar wortlos aus Tüten futtert, wird klar, dass die geradezu kindische Lust am Abenteuer selten lustig ist. Nein, Spaß, gar Triumph, sieht anders aus.
Vor allem aber, und dies ist wohl die größte Stärke, ist Fengler ein im besten Sinne dann doch wieder altmodischer Fotograf. Seine Bilder sind auf 23 Expeditionen zwischen 2002 und 2019 auf nahezu allen Kontinenten entstanden, von Grönland über Borneo nach Patagonien, und sie sind allesamt schwarz-weiß, als kämen sie aus der Zeit der großen Forschungsreisen. Das tut der Farbigkeit freilich keinen Abbruch, denn die entsteht im Kopf des Betrachters. Als wollte Fengler der Fantasie noch Raum geben, selbst das Wesen der Expedition kennenzulernen, die weißen Flecken auszumalen.
Neid? Mitleid? Sehnsucht? Oder anders: Wollen wir wirklich dabei sein? Fengler, so wirkt es, bricht jedenfalls nicht mit dem Ziel vieler Instant- und Insta-Abenteurer auf, ein ganz bestimmtes Bild machen zu müssen. Er ist vielmehr ein ständig Suchender, ein ständig Sehnsüchtiger. Das ist die Triebfeder des Fotografen, das ist der Antrieb für jede Expedition.