Exil-Brite Tim Parks über das Referendum:Was soll das selbstgerechte Brexit-Bashing?

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Brexit-Befürworter wie diese Frauen in Clacton-on-Sea als ignorant abzustempeln, ist arrogant, findet Exil-Brite Tim Parks. (Foto: AFP)

Wer für "Leave" gestimmt hat, wird als egoistischer Spielverderber abgekanzelt - dabei hatten viele Briten gute Gründe, für den Brexit zu stimmen. Befragt wurden im Vorfeld aber kaum intelligente Befürworter.

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Das Votum für den Brexit hat mich nicht überrascht. Überrascht haben mich die Leute, die überrascht waren. Hatten nicht die Umfragen über Wochen hinweg ein Kopf-an-Kopf-Rennen gezeigt? Und schockiert hat mich die Entscheidung schon gar nicht. Hätte ich wählen dürfen - aber ich habe das Wahlrecht nach 15 Jahren außerhalb Großbritanniens verloren - ich hätte für "Remain" gestimmt. Definitiv. Aber ich halte es nicht für einen Skandal, dass andere Leute anders denken.

Warum dann aber die außergewöhnliche Ungläubigkeit und Empörung um mich herum? Warum die entsetzten, ja ausfälligen SMS, die mich erreichen, warum die vielen Freunde, seien sie aus Italien oder England, Frankreich oder Deutschland, die das Ergebnis absolut inakzeptabel finden?

Während der letzten zwanzig oder dreißig Jahre ist die EU zum Synonym für "Europäische Kultur" geworden, der höchste Ausdruck unserer Zivilisation. Es hat sich die Vorstellung ausgebreitet, dass es für Europa keine wohltätige Zukunft außerhalb dieser "Gemeinschaft" geben kann, wobei schon das Wort Gemeinschaft absolut positiv klingt. So kommt es, dass jeder, der außerhalb dieser Gemeinschaft sein will, als unzivilisiert, ignorant, als selbstbezogener, egoistischer Spielverderber erscheint, der nur das Opfer eines sinistren Populismus sein kann.

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Diese Überzeugung aber schließt jede Debatte aus. Das Einzige, worüber man reden kann, ist dann der Wahn, die Rückwärtsgewandtheit, Dummheit und womöglich gar Bösartigkeit all jener, die diese herrschende, nahezu religiöse Überzeugung nicht teilen, all jener, die die Unverschämtheit haben, einen Weg "gegen die Geschichte" zu gehen.

Keine italienische Zeitung hat vor dem Referndum intelligente Brexit-Befürworter befragt

Ich lebe in Italien, und hier wurde diese Haltung ganz offensichtlich, wenn man sah, welche britischen Gesprächspartner sich die italienische Presse aussuchte, um für das bevorstehende Referendum eine Meinung einzuholen. Es war beruhigend, Interviews mit Ian McEwan zu lesen, die uns versicherten, dass die Europäische Gemeinschaft der Gipfel der menschlichen Zivilisation sei und dass Großbritannien, koste es, was es wolle, drin bleiben müsse, weil es nach allem Ermessen die EU sein würde, die die Welt vor der Erderwärmung retten werde, und so weiter. Es war spaßig, im Corriere della Sera zu lesen, wie Jonathan Coe Samuel Johnson und Jonathan Swift zitierte, als er Hohn über seine Landsleute ausschüttete, die so grobschlächtig und idiotisch waren, von einem anderen Schicksal zu träumen.

Aber nie hat meines Wissens eine italienische Zeitung sich an eine verlässliche und intelligente Person gewandt, die eine konträre Ansicht hatte, zum Beispiel Larry Evans, den Wirtschaftsredakteur des Guardian, oder Gisela Stuart, die in Deutschland geborene und aufgewachsene Labour-Abgeordnete aus Birmingham, die das Leave-Lager anführte.

Natürlich wollen die Menschen ihre Meinungen lieber bestätigt als infrage gestellt haben, und es ist ganz im Interesse einer Zeitung, ihre Leser glücklich zu halten. Allerdings gibt es keine bessere Methode, um seine Gegner zu provozieren und das politische Klima zu verbittern, als eine solche Weigerung, eine ernsthafte Debatte zu führen, diese Annahme, niemand, der irgendwie mit Vernunft begabt ist, könnte je anders denken, als man selber - kurz gesagt, dass mit der Europäischen Union die Geschichte vorbei sei. Dass es von dort nirgendwohin anders mehr hingehen könnte.

All dies wäre zu verstehen, wenn die Europäische Union bedeutende Erfolge aufweisen, wenn sie Solidarität demonstrieren und die vielen Probleme ihrer Mitglieder lösen könnte oder wenn die Gemeinschaft wenigstens eine Galionsfigur hätte, mit der man sich identifizieren könnte. Jemanden, von dem man sagen könnte: "Wie schlimm es auch werden wird, ich habe Vertrauen in ihn, ich glaube, ihm oder ihr liegen die Interessen meines Landes am Herzen, sind die Jugendarbeitslosigkeit in meiner Stadt ein Anliegen, sei es in Newcastle oder Reggio Calabria."

Können wir das ernsthaft von Jean-Claude Juncker oder von Angela Merkel sagen? Die Union mag theoretisch eine Gemeinschaft von Ländern sein, wir wissen aber genau, dass die mächtigste Person darin die deutsche Kanzlerin ist. Und nur die Deutschen haben diese Bundeskanzlerin gewählt. Sie ist zuvörderst ihnen verpflichtet. Keiner von uns dagegen hat Juncker gewählt. Und wenn die Völker von Europa je die Chance hätten, direkt einen Anführer zu wählen, dann wäre Juncker sicher nicht die Person, die sie wählen würden. Zur Zeit folgen unsere sogenannten europäischen Wahlen einer Logik, die völlig lokal und national ist, mit lächerlich niedrigen Beteiligungen und sehr wenig Gespür dafür, was das europäische Parlament eigentlich erreichen könnte.

Dies ist, nach so vielen Jahren, eine ziemlich große Schwäche. Dass nach fünfzehn Jahren Euro die Wirtschaft von Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und vielen anderen Mitgliedsstatten in großen Schwierigkeiten steckt, ist ein vernichtender Fehlschlag. Italien hat in dieser Zeit ein Drittel seiner Produktion verloren und fast die Hälfte seiner Bauwirtschaft, während die Jugendarbeitslosigkeit an die vierzig Prozent reicht.

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Das schlimmste Versagen der Union aber bezieht sich auf die Bewegungsfreiheit der Menschen (was für ein wunderbares Recht); die Kulturen der Mitgliedsstaaten sind sich heute nicht näher als vor zwanzig Jahren. Täglich hören die Italiener, ob ihre Wirtschaftspolitik von Berlin akzeptiert oder zurückgewiesen wurde, aber über die Deutschen wissen sie wenig oder gar nichts. Und sie wollen auch nichts wissen. Überall in Europa lesen wir unsere nationalen Zeitungen, sind wir eingespannt in die Tagesabläufe unserer eigenen Medien. Wenn man einen fremden Journalisten um einen Beitrag bittet, dann wird er mit großer Wahrscheinlichkeit amerikanisch sein oder englisch oder französisch. Selten deutsch. Niemals ein Pole oder Slowake.

Wenn wir einen ausländischen Roman lesen, wird der in sieben von zehn Fällen von einem englischen oder amerikanischen Autor sein. Wir sind abgesonderte Nationen - aber keine souveränen. Wir folgen dem Diktat aus Brüssel und lesen Jonathan Franzen oder Harry Potter. Wir schauen amerikanische Filme und folgen den amerikanischen Wahlen weitaus aufmerksamer als denen jedes Landes in der EU. Ist das eine Gemeinschaft? Unsere kollektive Identität ist im wesentlichen national, aber gezügelt und gezüchtigt - abgesehen nur von den gelegentlichen neunzig Minuten Fußballrausch.

Es war die "Leave"-Kampagne, die die einzige positive Botschaft hatte

Also, ich war weder überrascht noch schockiert vom Brexit. Aber ich habe die Orientierung verloren. Ich hätte für "Remain" votiert, weil ich weiter, allem jüngeren Augenschein zum Trotz, gern an ein gemeinsames, mit anderen geteiltes Projekt geglaubt hätte; ich wollte glauben, dass ein Sinneswandel möglich sei, einer, der die EU zu einer wirklichen Gemeinschaft gemacht hätte, nicht bloß zu einem kommerziellen Bunker gegen die Welt draußen. Ich hätte es sehr gern gesehen, dass das "Remain"-Lager auf der positiven Vision einer besseren Union insistiert hätte, einer, die Jung und Alt beleben und ein Gespür dafür schaffen könnte, was die Nation angehen sollte; stattdessen war sein einziges Mittel der Versuch, die Menschen durch die Ausmalung der ökonomischen Konsequenzen des Austritts zu ängstigen.

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Es war die "Leave"-Kampagne, die die einzige positive Botschaft hatte - Lasst uns die Kontrolle über unser Geschick wieder in die Hand nehmen! -, und auch wenn zweifellos eine Menge Xenophobe unter den Brexiteers stecken, kann ich nicht glauben, dass diese in der Mehrheit sind. Die Engländer haben einfach vor langer Zeit aufgehört, an einen Sinnes- oder gar Stilwandel seitens der EU zu glauben. Und sie hatten keine Angst, den Bann zu brechen, der Europa so lang gefangen hielt.

Und nun?

Nun hat mich die haarsträubende Selbstgerechtigkeit des geschlagenen "Remain"-Lagers erstaunt und schockiert. Die Idee eines zweiten Referendums ist verrückt. Das Letzte, was wir brauchen, ist ein Großbritannien, das voller Schrecken eine demütigende Kehrtwende vollzieht und schreiend und um sich schlagend in eine Beziehung hineingeschleift wird, die es nicht will. Lasst Großbritannien seinen eigenen Weg gehen, der schließlich nicht allzu weit führen wird. Die Distanz zwischen Dover und Calais wird exakt dieselbe sein wie immer.

Was mich betrifft, so werde ich mich auf den Weg zum Mailänder Rathaus machen und die italienische Staatsbürgerschaft beantragen. Vielleicht hätte ich das schon vor Jahren tun sollen. Ich möchte nicht in einem Land, in dem ich nun schon seit 35 Jahren lebe, zum "extracomunitario" werden, wie das die Italiener mit drohendem Unterton nennen. Ich werde das heiter und optimistisch gestimmt tun, in der Hoffnung, dass es noch nicht zu spät ist dafür, dass die Union sich ernsthaft Gedanken über das kollektive Wohlergehen ihrer Bürger zu machen beginnt.

Und ich habe während der Fußball-Europameisterschaft für England geschrien, so wie ich für Irland (das Land meiner Großväter) geschrien habe, und wie ich für Wales schreien werde, wenn die gegen Belgien antreten. Identität ist ein komplexes Tier.

Tim Parks, geboren 1954 in Manchester, lebt seit 1981 als Romanautor, Essayist und Übersetzer in Italien. Im Herbst erscheint sein neuer Essayband "Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen" im Antje Kunstmann Verlag, München. Deutsch von Fritz Göttler und Lothar Müller.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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