Wenn man einfach nur ganz professionell seine Rolle spielen würde, dann könnte die Geschichte mit einem einzigen Satz wie diesem zu Ende sein: "Die Eltern des Historikers Ewald Frie, der Professor in Tübingen ist, waren Bauern im Münsterland." Ein Satz in der Kurzbiografie eines etablierten Forschers. Mission erfüllt, und weiter.
Aber die Geschichte ist damit nicht zu Ende, denn Ewald Frie hat es gewagt, seine eigene Familie zum Thema zu machen. Er ist eines von elf Kindern, ja: elf, alle von derselben Mutter. Noch im Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1944, gebar sie ihr erstes Kind, den späteren Hoferben, und bis Ende der Sechzigerjahre wurde sie dann alle zwei Jahre schwanger. Elf Kinder überlebten. Die Mutter war "marienfromm und bildungshungrig zugleich". Alle Kinder außer dem Ältesten haben dann mit der Zeit die Welt der Landwirtschaft verlassen. "Wir rochen nicht mehr nach Kühen, Schweinen und Silage."
Ewald Frie, 60 Jahre alt, hat seine vielen Geschwister in Interviews befragt und hinterlassene Quellen studiert, und er erzählt nun in einem wunderbaren Buch vom Abschied von der bäuerlichen Gesellschaft. Es ist ein Prozess, der in der Bundesrepublik wie auch anderswo schleichend oder rasant verlief, je nachdem, wie nah man dran ist. Seine älteren Geschwister durften noch nicht Fußball spielen, weil dies dem Selbstverständnis der Hofbesitzer widersprach, sondern allenfalls zum Reiterverein gehen. Wenn die Kinder Hausaufgaben zu machen hatten, dann war das damals "die einzige Alternative zur Hof- und Hausarbeit, die akzeptiert wurde". Den Aufstieg durch Bildung, parallel zur Maschinisierung der Landarbeit, mussten die älteren Geschwister sich noch auf eigene Faust durch Umwege organisieren. Ewald Frie hingegen, 1962 geboren, als obsessiver Bücherleser ein Sonderling in der Familie, konnte schon ohne Widerstand kicken gehen und einfach mit dem Bus zum Gymnasium fahren und nachher studieren. Das war von der Tradition der Vorfahren eigentlich nicht vorgesehen.
"Bin ich ein Aufsteiger?" fragt sich der Autor, in seiner Wohnung sitzend
Die richtige Mischung aus sachlicher Distanz und persönlicher Wärme, die Ewald Frie als Beteiligter und als Wissenschaftler findet, um diese Geschichte seiner Familie zu verstehen, sie klingt beim Lesen so einfach, wie selbstverständlich. Aber sie ist bewundernswert. Mal referiert er nüchtern und präzise den sozialen Wandel - vom Pferd zum Traktor zur höheren Bildung in wenigen Jahrzehnten. Mal werden Lebensbilanzen gezogen, in eindringlichen Passagen wie dieser:
"Ich kann ganz viele Dinge nicht mehr, die mein Vater konnte: Vererbungsqualitäten von Bullen an deren äußerer Gestalt ablesen, Ferkel mit dem Taschenmesser kastrieren, fließend Plattdeutsch reden, Besen binden, das Wetter aus dem Zug der Wolken und der Farbe des Sonnenuntergangs vorhersagen." Da fragt Ewald Frie sich: "Bin ich ein Aufsteiger? Meine Wohnung ist viel kleiner als der Wohnbereich des Hofes meiner Eltern. Ich besitze kein Land, kein Haus, keine Tiere, keine Apfelbäume und keine Feuerstelle. (...) Ich habe einen Professorentitel und eine lange Publikationsliste. Läuft das nicht eher auf ein solides Unentschieden hinaus?"
Der Hof, auf dem Ewald Frie mit seinen Geschwistern (deren Vornamen er für das Buch geändert hat) aufwuchs, liegt zwei Kilometer von dem Dorf namens Nottuln entfernt und 25 Kilometer von Münster. Ein großes Bauernhaus, das 1896 neu gebaut worden war. Der eine Nachbarhof 150 Meter, der andere 300 Meter entfernt.
Zu den Besonderheiten der Siedlungsstruktur, über die Städter wohl selten nachdenken, wenn sie an das Landleben und die Landwirtschaft denken, gehört, dass Hof und Dorf zumindest in der herkömmlichen Welt dieser Münsterländer Bauern eher getrennte Welten waren. Die Höfe waren "lockere Gemeinschaften von Ungleichen", schreibt Frie: "Das entscheidende Kriterium war Landbesitz." In der Hinsicht hatte es die Familie, bei aller harten Arbeit, nicht so schlecht, und so fühlte man sich früher dem Dorf überlegen.
Zwar war das Dorf "der Ort der Kirche und des Frühschoppens, des Amtes und der Post. Die Volksschule war dort und die katholische Mädchenrealschule mit angeschlossenem Internat." Und es gab sogar seit 1926 auch ein Freibad und am Wochenende Kino. Aber da lebten, den Werten der Bauern zufolge, eigentlich keine richtig freien Menschen. Und man hatte früher selten Zeit für solche Dinge, als die meiste Arbeit noch mit den Händen gemacht wurde. "All das war beeindruckend, aber nichts davon war Alltag", beschreibt Frie das Lebensgefühl auf dem Hof. "Um ins Dorf zu fahren, musste es Gründe geben."
Später kamen die Autobahn, Sportplätze und ein neuer Mittelstand dazu - und erst mit der Zeit merkten die Älteren, dass die modernere Lebensweise in Dorf und Stadt den stärkeren Anspruch auf Autonomie und Freiheit stellen konnte als die Bindung an die eigene Scholle. Die Kinder wurden nach und nach davon weggelockt, sie wurden etwa Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, Pharmazeuten und eben einmal Professor. Obwohl die Mutter beim Abschied immer sagte: "Denk dran, hier ist immer einer zu Hause."
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Und während die Mutter ihre Beschränkung auf das Haus laut Ewald Frie wohl noch als "eine Errungenschaft ihrer Ehe" empfunden hatte, "abweichend von den vielen krumm gearbeiteten Frauen der Bauernschaft", die noch auf dem Feld mithalfen - so strebten ihre Töchter in die eigene Berufstätigkeit, und die Mutter unterstützte sie auf ihren neuen Bildungswegen. Mindestens so wichtig waren dafür die Angebote der katholischen Landjugend - vom Redewettbewerb bis zum Tanzabend -, die Disko und das Geld vom BAföG, 1971 eingeführt. Und die eigene Erfahrung im Teamwork. Zugleich veränderte sich auch die Landwirtschaft selbst, technisch und wirtschaftlich.
Wir werden unsere Herkunft nicht einfach los
"Es gibt nicht die eine Entscheidung, die uns vom Früher trennt", schreibt Ewald Frie. Eigentlich hatte er als nächstes eine große Geschichte des Pazifik schreiben wollen, aber die Pandemie verhinderte die dafür nötigen Recherchereisen. Ein Glück für dieses Buch. Wie Frie auf 170 Textseiten die allmähliche Lösung von einer Welt beschreibt, die durch körperliche Arbeit und Gebet strukturiert war, illusionslos und doch sensibel, mit historischem Blick als Fachmann und doch voller Dankbarkeit, wie er westfälisch handfest seine Familie analysiert und zugleich respektiert, wie er eine allgemeine, aber auch seine Geschichte erzählt, das hinterlässt großen Eindruck.
Dieses Buch ist auch so etwas wie ein Rezept, für alle, die im Wandel der Zeit ihren Platz finden wollen: Wir werden unsere Herkunft nicht einfach los; sie soll uns zwar nicht fesseln, aber wenn wir nicht versuchen, sie auf den Begriff zu bringen, dann wird sie zu sehr zu einem blinden Fleck. Es müssen ja nicht alle ein Buch daraus machen. Aber mit seiner Familie darüber zu sprechen, so wie es Ewald Frie getan hat, das ist eine gute Idee.