Süddeutsche Zeitung

Evgeny Kissin in München:Anflug aus dem Entrückten

In der Münchner Philharmonie zeigt Evgeny Kissin mit der "Pathétique", der Waldstein-Sonate, der Sturm-Sonate und den "Eroica"-Variationen, dass auch er Beethoven noch Eigenes abgewinnen kann.

Von Helmut Mauró

Man wird in diesem Beethoven-Jubeljahr noch viel vom Großmeister hören, darunter komplette Sonaten-Zyklen, und sich jedes Mal fragen, ob der nachschöpfende Bühnenkünstler etwas Neues entdeckt hat, etwas überraschend Ungehörtes. Von Evgeny Kissin wird man dergleichen vielleicht nicht unbedingt erwarten; da wäre man schon von relativ geringen Abweichungen in seiner Grundhaltung gegenüber Beethoven überrascht. Und doch gibt es Veränderungen, Entwicklungen, wie man nun in der Münchner Philharmonie am Gasteig hören konnte.

Die c-Moll-Sonate "Pathétique" beginnt er eher bedächtig, zweifelnd. Das vorgeschriebene grave nimmt Kissin nicht als Aufforderung, möglichst bedeutungsschwanger, mystifizierend zu agieren - wie etwa der junge Vladimir Ashkenazy und viele andere - oder schlichtweg schwerfällig, oder es nur als Vorlauf zum bald folgenden stürmischen allegro molto e con brio zu missbrauchen.

Kissin nähert sich wie aus fernen Welten, aus dem Entrückten, und zwar so, dass nicht klar ist, ob er wirklich ankommen will auf dem Planeten Erde. Das klingt recht ungewöhnlich in der subtilen Erzählweise Kissins - Krystian Zimerman empfindet hier ähnlich. Und es ist ein Erzählen, ein rezitativisches sich aus einem Bereich Herausbewegen, noch nicht so genau wissend, wo man landen wird.

Das Allegro kommt dann erstaunlich unaggressiv, ja bescheiden, wertet man den spieltechnischen Aufwand. Dennoch hat Kissin das Beethovensche Pathos im Blick, ohne das dessen Musik nicht denkbar ist. Aber er will sich nicht von vornherein dieser Ästhetik unterwerfen, die man doch kaum ungebrochen in die Gegenwart überführen kann. Vielmehr zeigt Kissin genau dieses Dilemma auf, indem er eine Entwicklung vom Erzählerischen zum Dramatischen vorführt, die ihn als nachschöpfenden Künstler zwingt, eine Zwischenposition einzunehmen, ein vermittelndes Drittes. Und so erscheint dieses höchstpersönliche Pathos auf einmal als eine Art objektive Empfindung, aus der erst nach und nach jene kraftvolle, klischeehaft titanische Klangwelt erwächst, die meist als Ausgangspunkt für Beethovens Musik behauptet wird.

Kissin lässt nun den Bass dicke Akzente setzen, stellt aber gleichzeitig brillant die Binnenmelodik aus, in der Beethoven so gerne zwischen den Stimmlagen interagiert: wenn ein Motiv von einer Stimme in die andere wandert, aber nicht als Ganzes, sondern schon nach ein paar Tönen andernorts weiterklingt.

Die "Waldsteinsonate" ist eine Totalverdichtung. Man kommt mit dem Hören kaum mit

Und so entwickelt sich dieser Kopfsatz der "Pathétique" dramatisch straff und kippt doch nie ins hysterisch Ideologische. Desgleichen das Adagio: zügig, unsentimental, fast ein bisschen lapidar. Selbst das Finale: weniger hart als üblich, oftmals ein weich absetzendes portato statt staccato. Vor allem aber: metrisch-rhythmisch sehr präzise, keine fehlgeleiteten Ausdrucksrubati. Wie angenehm richtig das klingt! In den "Eroica"-Variationen setzt Kissin auf stärkere Kontraste und lebt sein Virtuosentum aus - er gehört noch immer in die überschaubare Riege herausragender Techniker; die vorletzte Variation gerät geradezu expressionistisch.

Dies in der "Sturm-Sonate" fortzuführen, überzeugt in der gebotenen Praxis nicht durchweg, stärkerer Pedalgebrauch und zunehmende Temposchwankungen bringen Ungenauigkeiten. Allerdings nicht zwangsläufig, wie sich nun in der "Waldsteinsonate" op. 53 zeigt. Kissin bewegt sich metrisch freier, federt die attacca-Passagen wunderbar ab in sanfte Decresdendi. Gleichzeitig packt ihn hier der Virtuosenehrgeiz, die Läufe rasen noch schneller als in den vorangegangenen Stücken, alles wird noch dichter. Aber das ist diese Sonate ja auch: eine Totalverdichtung. Manchmal kommt man mit dem Hören kaum mit.

Der zweite Satz, das adagio molto, ist dann das schiere Gegenteil. Ein Gegengewicht zu Verdichtung, Ordnung, Präzision, Hochgeschwindigkeit. Dieses Adagio ist pure Freiheit, kühn kalkulierte Leere, bloße Struktur, Skelett, Loslösung, Entkernung. Evgeny Kissin besinnt sich dabei aufs rein Spielerische und führt alles virtuos Anmutende oder übermäßig Dramatische ins zart Schwebende. Ein brillantes Finale.

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SZ vom 22.01.2020
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