"Everest" beim Filmfestival Venedig:Der Berg zeigt sein hässliches Gesicht

"Everest", Filmfestival Venedig

Für 65 000 Dollar auf den Everest: Rob Hall (Jason Clarke, Mitte) führt eine kommerzielle Expedition auf den höchsten Gipfel der Welt.

(Foto: Universal)

"Everest" bringt eines der schlimmsten Unglücke am höchsten Gipfel der Welt in 3 D auf die Leinwand. Das Problem des Films: Er scheut vor Schuldzuweisungen zurück.

Von Susan Vahabzadeh

Bevor der amerikanische Journalist Jon Krakauer den Mount Everest bestieg, hatte er sich schon mehr als einmal mit der Frage beschäftigt, warum Menschen fürchterliche Strapazen auf sich nehmen, ihr Leben riskieren im Kampf gegen die Natur. "Into the Wild" war sein bekanntestes Buch, ein Bestseller, als ihn ein amerikanisches Magazin in einer Gruppe zahlender Touristen unterbrachte, die den Mount Everest besteigen sollten. Die Story, die er dann mitbrachte, im Mai 1996, sprengte den Rahmen des Magazins. Acht Menschen aus seiner Gruppe waren bei der Besteigung ums Leben gekommen - es war eines der übelsten Unglücke in der Geschichte des Bergsports, und Krakauers Buch "In eisige Höhen" machte dieses Unglück umso berühmter.

Balthasar Kormákur, der zuletzt das Fischerdrama "The Deep" drehte, hat diesen Schreckenstag, den 9. Mai 1996, nun verfilmt, in 3-D - das Eis und die Felsen und die Wolken sind darin zum Greifen nah. Was einigermaßen bizarr ist, wenn der Film an einem heißen Sommerabend auf dem Lido in Venedig läuft. "Everest" ist der Eröffnungsfilm der 72. Festspiele, ein Action-Film, mit großer Besetzung - was einerseits für eine Festival-Eröffnung ein Glücksfall ist, weil eine hübsche Auswahl berühmter Menschen zum Gala-Screening erscheint.

"Everest" ist ein Gruppenfilm, man kann kaum eine Hauptfigur ausmachen - zur Auswahl stehen Jake Gyllenhaal, Josh Brolin, Keira Knightley, Sam Wortington, Emily Watson . . . Andererseits ist nicht alles, was man in Kormákurs Film sieht, die ideale Vorbereitung auf ein kaltes Buffet. Auch der Tod ist ja dann zum Greifen nah, in 3-D. Was dem Gesicht von Josh Brolin widerfährt, beispielsweise, das ihm am Ende zur Hälfte weggefroren ist. Aber erst einmal zurück zum Anfang.

Laien auf dem Berg

Damals, in den Neunzigerjahren, etablierten sich kommerzielle Trips auf den Everest, Teams von Sherpas und Profi-Bergsteigern führten zahlungskräftige Touristen auf den Gipfel, 65 000 Dollar kostete die Reise regulär, die Krakauer damals antrat - davon sollte sein Artikel handeln: Dass nun auch Leute mit Hilfe diesen Berg besteigen können, die das von Haus aus nicht könnten.

Rob Hall (Jason Clarke) hat mit seiner Firma eine solche Reise organisiert, eine andere Gruppe wird von Scott Fischer (Jake Gyllenhaal) geführt. Eine Japanerin ist dabei, die schon sechs der Seven Summits, der jeweils höchsten Berge der sieben Kontinente, bestiegen hat; und der Briefträger Doug, der schon einmal kurz vor dem Gipfel des Mount Everest hat umkehren müssen; und ein reicher Texaner, Beck Wethers (Josh Brolin), der eigentlich Angst hat, noch bevor es losgeht und sich schon am Fuß des Gipfels selbst besiegen muss, um der ganze Kerl zu sein, als den er sich sehen will.

Es wird zu einem Stau kommen, sehr weit oben

Im Basislager wird Rob und Scott bald klar, dass es ein Problem gibt - es sind viel zu viele Gruppen dort oben, und die beiden tun sich dann mit einer dritten Gruppe zusammen, um wenigstens besser organisieren zu können, was unvermeidlich ist: Es wird zu einem Stau kommen, sehr weit oben, das wird den Auf- und Abstieg verzögern. Das ist das Problem, dass sie vorhersehen und bewältigen - es wird noch andere geben.

Jon Krakauer kommt auch im Film vor, als Randfigur, eine Verfilmung von "In eisige Höhen" ist Kormákurs Film nicht. Es geht hier nicht um Motivationen und auch nicht um große Kontroversen. Kormákur erzählt seine Geschichte geradlinig herunter und konzentriert sich dabei auf seine spektakulären Bilder, die einen manchmal tatsächlich ein wenig frösteln lassen. Vom Everest vor klarem Himmel gibt es aber bald nicht mehr viel zu sehen - denn als die Teams endlich oben sind, ausgebremst von fehlenden Sicherungen, die erst noch nachträglich an den Felsen angebracht werden mussten, schlägt das Wetter um. Und die eisigen Höhen bei Schneesturm - das sind spektakuläre Bilder anderer Art: Der Berg zeigt sein hässliches Gesicht.

Ist es für einen Bergführer besser, den Gipfel ohne Flaschensauerstoff zu besteigen, um keinen Schock zu erleben, wenn dieser nicht reicht? Oder muss gerade ein Führer sich optimal bei Kräften halten, um sich besser um seine Kundschaft kümmern zu können? Das war die Kontroverse, die Krakauer damals anzettelte.

Ging es den Führern nur ums Geld?

"Everest" ist in seiner Nacherzählung der Ereignisse geradezu unparteiisch - das geht auf Kosten der Spannung. Ging es den Führern nur ums Geld? Ein bisschen ja, ein bisschen nein, das wird gleich am Anfang klargestellt, als ginge Geschäftemacherei gegen jede Bergsteigerehre. Drama, das entsteht da, wo einer recht hat und einer nicht - hier aber geben alle ihr Bestes; und am Ende reicht es doch nicht.

Rob Halls Fehler ist goldig, er möchte Doug doch noch die Chance geben, es im zweiten Anlauf bis auf den Gipfel zu schaffen und steigt deshalb mit ihm nicht rechtzeitig ab. Und Scott Fischer betreibt bis zum letzten Augenblick Raubbau an sich selbst. So bleiben diese gleichbleibend gutmütigen Figuren seltsam blutleer; nicht einmal Jake Gyllenhaal als Scott Fischer, bei dem man noch am ehesten eine Persönlichkeit erkennen kann, erwacht so recht zum Leben.

Der Rest, bis hin zu den letzten Telefongesprächen, die der sterbende Rob Hall vom Gipfel mit seiner schwangeren Frau (Keira Knightley) führt, bleibt bloße Behauptung - obwohl das alles wirklich so passiert ist. Kormákur geht in die Falle, in die Filmemacher oft hineintappen, wenn sie sich realer Katastrophen annehmen: Aus lauter Ehrfurcht klappert er die Fakten ab und scheut zurück vor allen Schuldzuweisungen. Dem Ereignis ist das vielleicht angemessen - aber ist das Kino?

Eine Geschichte steht nicht für sich selbst, nur weil sie wahr ist

Das ist dann genau das Missverständnis: Eine Geschichte steht nicht für sich selbst, nur weil sie wahr ist. So, wie Kormákur "Everest" erzählt, fehlt die Perspektive - irgendeine Sicht auf die Katastrophe, die er sich zu eigen machte. Eine Geschichte ist eben mehr als eine Abfolge von Ereignissen. Als Jon Krakauer, ein paar Wochen nach dem Unglück, der New York Times ein Interview gab, wurde er gefragt, ob er ein Buch schreiben wolle über das, was er auf dem Mount Everest erlebt hat.

Krakauer sagte: Nein, denn dieses Buch habe ich schon geschrieben - "Into the Wild".

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