Süddeutsche Zeitung

"kyung" von Eva Marie Leuenberger:Hier ist der Körper

Eva Maria Leuenberger beschäftigt sich in "kyung" mit einem Werk postkolonialer Avantgarde.

Von Nico Bleutge

Das Buch "Dictée" der Dichterin und Performancekünstlerin Theresa Hak Kyung Cha gehört zu den seltsamsten Geflechten der Gegenwartsliteratur. Eine Melange aus Wortetüden und Erinnerungssplittern, mäandernd zwischen Essay und Gedicht und verschiedenen Sprachen. Als es 1982 erschien, wurde es als eine luzide Hinterfragung aller Konstruktionen von Herrschaft und Zugehörigkeit gelesen. Zugleich ist es eng verknüpft mit der Biografie seiner Autorin. Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Buches wurde Cha in einem New Yorker Parkhaus von einem Wachmann vergewaltigt und ermordet.

Theresa Hak Kyung Cha, 1951 in Busan geboren, kommt aus einer Familie mit vielschichtigen Exilerfahrungen: japanische Besetzung Koreas, Zweiter Weltkrieg, später die Militärdiktatur. Als sie 11 Jahre alt ist, emigriert sie mit ihren Eltern und Geschwistern in die USA. Nicht zuletzt aus dieser vielsträhnigen und vielsprachigen Erfahrung speist sich auch "Dictée". Chas translinguale Verwandlungen haben Dichterinnen aus aller Welt immer wieder zu eigenen Arbeiten angeregt, Cathy Park Hong etwa hat ihr ein umfassendes Porträt gewidmet, Uljana Wolf einen seinerseits sprachschillernden Essay.

Nun hat die Dichterin Eva Maria Leuenberger ein ganzes Buch geschrieben, das den Titel "kyung" trägt. Gleich zu Beginn stellt sie eine direkte Verbindung her zwischen Theresa Hak Kyung Cha und ihrem eigenen Lesen und Schreiben, die gegen Ende des Buches konkretisiert wird: "theresa hak kyung cha stirbt am 5. November 1982 (...) / ich werde 1991 geboren. / ich lese ,dictée' im januar 2017. ich lege meine hand zwischen die seiten eines buches".

Die daoistische Idee der Leere versteht sie positiv, als ein Sich-Auflösen

Die Anziehungskraft, die Chas Text auf die Sprecherin ausübt, zeigt sich in mehreren Strängen. Da ist zum einen die Suche nach dem Körper, der sich immer nur in Konstellationen von Macht beschreiben lässt. In Anverwandlung einer Szene des Verbrechens an Cha heißt es: "hier ist der körper / und der kontrast der tat gegen den körper / die instrumente der macht, die luft/wort/licht reduzieren / auf einen boden aus fleisch, oder lehm" .

Entsprechend liest Leuenberger "Dictée" als einen Versuch, alle Diskurse und Handlungen von Herrschaft und Eindeutigkeit zu unterlaufen. Dabei macht sie deutlich, dass Cha die für ihr Schreiben so wichtige Idee der Leere in der Nachfolge des Daoismus nicht als defizitär, sondern positiv versteht, als eine Art Selbst-Entleerung, ein Sich-Auflösen in Luft oder einen "fluss aus stimmen". Daraus ergibt sich eine Aufgabe für das Schreiben, ein Paradox fast: Wie lässt sich etwas von dieser Leere mit der Sprache einfangen, mit einem Instrument also, das das genaue Gegenteil der Leere zu sein scheint, weil es hoch vermittelt mit Zeichen arbeitet?

Eine Aufgabe, die Chas und Leuenbergers Schreiben in gleichem Maße betrifft. Nicht von ungefähr schwärmt die in Bern geborene Dichterin immer wieder von der Form der "Dictée"-Texte: "sätze fragmentieren, stolpern über endpunkte, halten an - beginnen neu. die stimmen gehen ineinander über (...). chronologische zeit wird flüssig. zerrinnt." Ein solches "palimpsest einer fragmentierten identität" mit seinem "mehrstimmigen material" versucht Leuenberger nun selbst anzulegen.

Leuenberger spielt mit der Leere der Seite, denkt in Wiederholungen

Und darin liegt ein Reiz ihres Buches. Sie collagiert verschiedene Textsorten, vom Gedicht bis zur theoretischen Äußerung, arbeitet mit unterschiedlichen Schriftfarben und Sprachen, verwendet Fotos und Abbildungen oder streut Zitate auf die Seiten, die von Susan Sontag bis zu Czesław Miłosz reichen. Wobei es "streuen" nicht ganz trifft. Wie schon in ihrem Lyrikdebüt "dekarnation" spielt Leuenberger mit der Leere der Seite, denkt konstellativ und in Wiederholungen und Variationen, sodass manchmal nur ein einziger Satz auf einer Seite stehen kann: "und die zahnräder drehen".

Allerdings liegt in dem Versuch, die Leere formal umzusetzen, auch die Grenze dieses Unterfangens. Nicht wenige Sätze in "kyung" wirken ihrerseits leer, an den Rand der Abstraktion oder allzu bekannter Formulierungen getrieben. Da ist von den "leinwänden der zeit" oder der "leere am grund" die Rede, von den "worten im nebel" oder dem "geheimnis am grund der frage". Viel stärker ist Leuenberger dort, wo sie sich auf die Konkretion eines "roten ledermantels" und einer "braunen mütze" einlässt oder Sätze schreibt, die wie Bildübersetzungen zu Theresa Hak Kyung Chas Performances und Videos wirken.

Bei alledem ist "kyung" ein anregendes Buch über die Kraft der Assoziation und der Wiederholung. Ein Buch über den Tod und über die Sprache. Es zeigt die Mechanismen von Gewalt, die in die Wörter eingelagert sind, und deutet an, dass auch in allem Sprechen nur eine "illusion von sicherheit / und sprache" möglich ist.

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