Euthanasie-Buch "Die Belasteten":Testat für die Todesbürokratie

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Busse der "Gemeinnützigen Krankentransport GmbH" vor der hessischen Anstalt Eichberg. In den Bussen dieser Tarnfirma der Berliner Euthanasie-Zentrale wurden die Kranken im NS-Euthanasie-Programm deportiert. (Foto: SZ Photo)

Wenn die Busse vor den Pflegeanstalten auftauchten, dann war ihr Schicksal besiegelt. Die Nazis holten Hunderttausende behinderter Menschen aus Heimen, um sie zu ermorden. In "Die Belasteten" kritisiert Götz Aly die verklemmte Diskretion der Angehörigen von Opfern, durch die die NS-Täter erst zum Holocaust animiert worden seien.

Wenn graue Busse in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten auftauchten, wussten die Pfleger und Patienten, dass es wieder an Zeit war: Viele, von den Nationalsozialisten als "Idioten", "Krüppel" oder "Schwachsinnige" eingestufte Menschen sollten in die Vergasungsanstalten deportiert werden. Eine Flucht war unmöglich, ihre Schicksale waren besiegelt.

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Den Euthanasiemorden der Nazis, die offiziell im Herbst 1939 begannen, hat sich nun der Historiker und Journalist Götz Aly angenommen, der sich mit seinen Untersuchungen großes Ansehen erarbeitet, mit seinen Ergebnissen aber auch immer wieder in der etablierten Geschichtswissenschaft angeeckt hat. In seinem Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" kam er 2011 etwa zu dem Schluss, dass das sozialstaatliche Gerechtigkeitsstreben eine der Voraussetzungen des Holocausts war. Seine damalige These: Die Juden seien die größten Gewinner der Modernisierung im 19. Jahrhundert gewesen und hätten so Neid auf sich gezogen.

Auch die "Aktion T4", wie die Nazis die Euthanasie bemäntelten, bringt Aly nun in einen Zusammenhang mit dem Holocaust. Aus seiner Sicht war sie ein Vorspiel für den Genozid: "Weil die Deutschen den Mord an den eigenen Volksgenossen hinnahmen, gewannen die Politiker die Zuversicht, sie könnten noch größere Verberechen ohne bedeutenden Widerspruch begehen."

Diesen Ermordeten gibt Aly nun eine Stimme. Der 65-Jährige berichtet in "Die Belasteten" über die Schicksale von pflegebedürftigen Menschen und erklärt die Todesmaschinerie der "Aktion T4". Gleichzeitig kritisiert er die "verklemmte Diskretion" , mit der Familienangehörige der Opfer das Geschehen betrachteten und mit der noch heute die Aufarbeitung dieses Kapitels behandelt wird.

Nur der Bischof sprach von Mord

Nur wenige der Angehörigen legten Protest gegen die Abtransporte ein. Die meisten gaben sich damit zufrieden, dass der Patient an einer natürlichen Todesursache gestorben war. Einzig der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen sprach von Mord. Trotzdem er seinen Protest offenlegte, wurde er jedoch vom Regime verschont. Was die vielen Morde, die die Zahl 200.000 übersteigen, aber nicht verhindern konnte.

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Aly beschäftigt sich seit 30 Jahren mit den Themen Euthanasie, Holocaust und Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten. Zu seinen Werken zählen neben "Warum die Juden? Warum die Deutschen?" auch "Endlösung" (1995) und Hitlers Volksstaat" (2005). Zu seinem neuen Buch hat ihn auch sein persönliches Schicksal angeregt: Seine Tochter ist seit einer Gehirnhautentzündung direkt nach ihrer Geburt schwer behindert. "Die Belasteten" ist für den Preis der Leipziger Buchmesse, die vom 14. bis 17. März stattfinden wird, nominiert.

Eine ausführliche Besprechung des Buchs lesen SIe in der Süddeutschen Zeitung vom 14. März 2013.

Götz Aly: "Die Belasteten. 'Euthanasie' 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 352 Seiten, 22,99 Euro.

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