Süddeutsche Zeitung

Eurovision Song Contest:Warum der Song Contest in Israel ein Aufreger ist

Regierungschef Netanjahu will das Land als weltoffenes Tourismusziel präsentieren. Rabbiner beklagen eine "Schändung" des jüdischen Ruhetags.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Mehr als zweihundert Menschen stehen Freitagmittag bei 26 Grad an, um auf Einlass ins Eurovision-Dorf in Tel Aviv zu warten. Kurz nach zwölf Uhr öffnen sich die Gitter, jeder muss einem der Ordner Einblick in seine Tasche geben, bei manchen werden auch noch die Hosentaschen abgetastet. Mehrere Dutzend Polizisten, einige auf einem Hochstand, sind präsent - aber alle sichtlich entspannt.

In dem Areal direkt am Strand von Tel Aviv sind Buden und Bühnen sowie riesige Leinwände aufgebaut. Tausende Menschen haben hier bereits die Semifinals des Eurovision Song Contest (ESC) verfolgt. Hier steigt die große Party zum Finale am Samstag, wo auch Madonna zwei Songs zum Besten geben wird. Der israelisch-kanadische Milliardär Silvan Adams ließ sich das eine Million Dollar kosten.

Auch tagsüber gab es im Eurovision-Dorf Shows israelischer Künstler und Auftritte ehemaliger Song-Contest-Gewinner wie der Israelin Dana International und Conchita Wurst aus Österreich. Alle 42 Delegationen waren gekommen - trotz Boykottaufrufen. Künstler wie die Musiker Roger Waters und Peter Gabriel hatten wegen "systematischer Verletzungen der Menschenrechte von Palästinensern" eine Verlegung in ein anderes Land verlangt.

Die heftigste Eskalation seit Ende des Gazakriegs 2014 schreckte Besucher ab

Etwa 5000 Besucher sind extra für den ESC angereist, weniger als erwartet. Egal, wen man fragt, alle zeigen sich verwundert, dass es nicht mehr Sicherheitsmaßnahmen gibt. Man war auf Panzer in den Straßen gefasst oder zumindest auf mehr Soldaten, so die Antworten. Laut dem Polizeisprecher Micky Rosenfeld sind rund 20 000 Einsatzkräfte im Einsatz. Viele sind ohne Uniform unterwegs, etwa wenn sie am Strand patrouillieren. "Es gibt keine konkrete Warnung, aber wir kennen die Dynamik in dieser Region und wissen, dass sich die Dinge schnell entwickeln können", sagt Rosenfeld.

Erst am Samstag vor zwei Wochen hatte ein zweitägiger Raketenhagel aus dem Gazastreifen begonnen. Militante Palästinenser von Hamas und Islamischem Dschihad hatten den nahenden Wettbewerb benutzt, um Druck zu machen. Laut palästinensischen Angaben hatte Israel Zusagen wie die Lockerung der Blockade zur Einfuhr von Gütern und Geld gebrochen. Nach 700 Raketen, vier Toten auf israelischer und 25 auf palästinensischer Seite wurde unter ägyptischer Vermittlung ein Waffenstillstand vereinbart.

Nach dieser heftigsten Eskalation seit dem Ende des Gazakriegs 2014 stornierten einige Besucher, andere fühlten sich schon davor von den hohen Preisen abgeschreckt. Hoteliers hatten kräftige Aufschläge verlangt. Auch auf Tickets für die beiden Halbfinals blieben die Veranstalter sitzen. Bis zu 360 Euro wurden verlangt - deutlich mehr als bei den bisherigen ESC-Veranstaltungen. Deshalb gingen viele Interessenten lieber bei freiem Eintritt ins Eurovision-Dorf.

Auch im Land selbst sind nicht alle begeistert davon, dass der Wettstreit überhaupt in Israel ausgetragen wird - und das auch noch in Tel Aviv. Nach dem Sieg der Israelin Netta im Vorjahr hatte Regierungschef Benjamin Netanjahu angekündigt: "Nächstes Jahr in Jerusalem." Israel sieht Jerusalem als seine "ungeteilte, geeinte Hauptstadt", der Ostteil wird jedoch von den Palästinensern als ihre Hauptstadt eines noch zu gründenden Staates beansprucht. Netanjahu wollte mit dem Austragungsort Jerusalem Israels Anspruch untermauern.

Hinter den Kulissen versuchte der in der Schweiz sitzende Veranstalter, die European Broadcasting Union (EBU), Tel Aviv durchzusetzen. Ihr Argument: Als selbsternannte Partystadt und Hotspot der homosexuellen Community ist das liberale Tel Aviv viel geeigneter als Jerusalem, das religiöse Zentrum. Offiziell war dann die Größe der Veranstaltungshalle der Grund für den Austragungsort Tel Aviv.

Die Verantwortlichen in Israel verstanden rasch, dass man sich in Tel Aviv vor einer Millionenkulisse weltoffener präsentieren kann, und hoffen auf einen nachhaltigen Effekt für den ohnehin boomenden Tourismus. Der erst 2017 gegründete öffentliche Sender Kan, der mit der Regierung Streit über die Finanzierung der Veranstaltung hatte, weigerte sich jedoch, Werbevideos mit Künstlern in den besetzten palästinensischen Gebieten zu drehen. Während Israels Tourismusorganisationen ESC-Besuchern Gratistouren nach Jerusalem oder ans Tote Meer anboten, rief die regierungskritische Organisation "Breaking the Silence" dazu auf, Hebron zu besuchen. Dort leben rund 800 Siedler unter 200 000 Palästinensern, immer wieder kommt es zu Konflikten. Rund 170 Menschen sollen das Angebot für eine Tour angenommen haben.

Der Wettbewerb erwies sich aber auch als Belastungsprobe für die laufenden Koalitionsverhandlungen. Ultraorthodoxe kritisierten, dass zwar das Finale nach Ende des Sabbats beginnt, davor aber Proben abgehalten und "Juden zur Arbeit gezwungen werden". Regierungschef Netanjahu, der die ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum für ein Bündnis braucht, schrieb einen Brief an deren Parteichefs und erklärte, dies sei "eine internationale Veranstaltung, die nicht von der Regierung kontrolliert" werde. Zudem seien "die meisten Teilnehmer der Veranstaltung nicht jüdisch".

Das beschwichtigte zumindest die Rabbiner nicht. Chef-Rabbiner David Lau rief alle Juden dazu auf, diesmal den Sabbat um zwanzig Minuten zu verlängern, um dadurch eine "Schändung" des jüdischen Ruhetags auszugleichen. Aber auch von Muslimen gab es Proteste. Sie fühlen sich in der Hassan-Bek-Moschee, die direkt gegenüber dem Eurovision-Dorf liegt, durch den Partylärm beim Beten gestört. So machen sich die Kräfte von Politik und Religion in Israel auch bei diesem ESC-Finale deutlich bemerkbar.

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SZ vom 18.05.2019/munz
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