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Europas Kulturhauptstadt 2015:"Wir appellieren an die Menschen, sich zu öffnen"

Seine Mutter ist eine landesweit bekannte Sängerin, sein Vater weltberühmter Regisseur: Petr Forman stammt aus einer bedeutenden Künstlerfamilie Tschechiens, nun bringt er seine Erfahrungen als Künstlerischer Leiter der europäischen Kulturhauptstadt Pilsen ein. Ein Gespräch über Bier, Skateboards und darüber, was von "Pilsen2015" bleiben soll.

Von Paul Katzenberger

Im Leben Petr Formans war manches anders als bei vielen Tschechen seiner Generation, die wie er ihre Jugend im Kommunismus verbringen mussten. Als Sohn des späteren Oscar-Preisträgers Miloš Forman ("Einer flog über das Kuckucksnest") und der landesweit bekannten Sängerin Věra Křesadlová wurde er nach eigenem Bekenntnis schon in der Kindheit stark durch die Kultur geprägt: "Mein Bruder Matěj und ich waren in der Schule nie besonders gut in Physik oder Mathe, dafür begeisterten uns seit jeher für die Künste." Nach der Emigration des Vaters in die USA im Jahr 1968 geriet Forman zudem frühzeitig in Kontakt mit der großen weiten Welt.

Als studierter Puppenspieler steht er mit seinem Zwillingsbruder Matěj seit 30 Jahren auf der Bühne, gemeinsam traten sie unter dem Namen "Tuju" sowie "Akabal" auf. Er inszenierte die Opern "Cavalleria rusticana" und "Die verkaufte Braut" im Prager Nationaltheater und betrieb mit seinem Bruder auf der Moldau das Theaterschiff "Geheimnis". Seit zwei Jahren arbeitet er an dem Konzept der europäischen Kulturhauptstadt "Pilsen 2015". Am vergangenen Wochenende eröffnete die westböhmische Stadt ihr Jahr als Kulturhauptstadt Europas mit einer großen Party.

SZ.de: Pilsen ist als Kulturhauptstadt Europas ins Jahr gestartet. Für diese neue Rolle hat die Stadt den Slogan "Open Up" gewählt. War das Ihre Idee?

Petr Forman: Dieser Slogan war schon da, als ich angefangen habe, das künstlerische Konzept für "Pilsen 2015" zu entwickeln. Aber er deckt sich weitgehend mit meinen Vorstellungen von Pilsen als Kulturhauptstadt Europas.

In einer Stadt wie Pilsen, die wie kaum eine zweite für Bier steht, weckt die Ansage "Aufmachen" natürlich eine ganz bestimmte Assoziation.

Diese Assoziation war sicher nicht ganz unbeabsichtigt. Sie steht für das, was die Menschen hier mit Begeisterung tun, auch ich bin leidenschaftlicher Biertrinker. Doch die tiefere Bedeutung des Slogans ist natürlich eine andere.

Welche?

Wir appellieren mit diesem Leitspruch an die Menschen hier, sich zu öffnen. Die Leute hier geben untereinander sogar zu, dass sie konservativ sind. Ich würde weiter gehen und sagen, dass hier häufig eine gewisse Engstirnigkeit herrscht, die aus der Zeit der kommunistischen Diktatur herrührt. Natürlich hat sich hier in den vergangenen 25 Jahren viel verändert, doch das gilt vor allem für den Lebensstandard und die Infrastruktur. Was die geistige Freiheit betrifft, geht es allerdings nur sehr langsam voran. Im Kommunismus war so gut wie alles verboten, und die Leute, die diese Zeit erlebt haben, tragen immer noch Blockaden mit sich herum.

Das macht es einem künstlerischen Leiter wie Ihnen sicher nicht leichter. Wie wollen Sie die Leute dazu bringen, sich zu öffnen?

Mit Sicherheit werde ich es ihnen nicht diktieren. Vielmehr werde ich versuchen, Anreize zu setzen, die die Leute im besten Fall dazu veranlassen, sich Schritt für Schritt selber zu öffnen.

Wie soll das genau aussehen?

Ich will die Kultur zu jenen Leuten bringen, die sich in aller Regel nicht in die Räume begeben, in den Kultur erfahrbar ist, die also nicht in Galerien, Konzertsäle oder ins Theater gehen. "Pilsen 2015" wird zuvorderst ein Festival der Straßenkunst und eine Veranstaltung mit niedrigen Barrieren sein.

Beim Wort "Straßenkunst" stöhnen Kritiker des EU-Konzeptes von alljährlichen Kulturhauptstädten auf. Sie kritisieren, dass dabei oft nicht mehr herauskommt als eben jene Straßenkunst und bezweifeln ihre Nachhaltigkeit.

Die Nachhaltigkeit hatte auch für mich oberste Priorität. Ich will aus dieser einmaligen Chance, ein ganzes Jahr lang ein künstlerisches Angebot machen zu können, so viel wie möglich heraus holen. Ich orientiere mich dabei an meinen Erfahrungen als internationaler Theatermacher. Seit 30 Jahren geben die Forman-Brüder, das Ensemble, das ich mit Matěj gegründet habe, Gastspiele auf der ganzen Welt. Auf unseren Touren habe ich tolle Sachen gesehen, die mich fasziniert haben, nicht nur, weil sie aus einem anderen Kulturraum kamen, sondern auch, weil sie qualitativ unglaublich gut gemacht waren. Einige dieser Künstler werde ich hierher bringen, damit die Menschen in Pilsen etwas kennenlernen, was sie sonst niemals erleben würden.

Auf wen können sich die Pilsener konkret freuen?

Ein wichtiger Teil des Programmes, der uns das ganze Jahr über begleiten wird, steht unter der Überschrift "Saison des Neuen Zirkus". Verschiedene Künstler aus allen Teilen Europas werden hier zu Gast sein, etwa der Schweizer Seilkünstler David Dimitri, das katalanische Trio Psirc oder der französische Cirque Trottola.

Sie gelten als großer Zirkusfan, sind da Ihre persönlichen Vorlieben nicht etwas überrepräsentiert?

Das habe ich mich selber kritisch gefragt und mich dann doch dazu entschieden. Denn ich glaube, mit solchen Künstlern etwas ganz Wesentliches demonstrieren zu können: dass diese Leute unheimlich hart arbeiten müssen, um Darbietungen dieser Qualität zustande zu bringen. Du kannst da nicht schummeln: Die müssen genauso Profis sein wie ein Arzt, ein Rechtsanwalt oder ein Zimmermann.

Warum ist Ihnen das so wichtig?

Weil Künstler in Tschechien häufig nicht diesen Einsatz bringen müssen, um Erfolg zu haben. Wir sind ein kleines Land, da ist die Konkurrenz nicht so groß. Doch Künstler aus Frankreich, Italien oder woher auch immer sie kommen, sind einem harten Wettbewerb ausgesetzt, der sie antreibt, besser und besser zu werden. Ich selbst bin meiner Meinung nach nur durch diese Stimulanz aus dem Ausland besser geworden.

Sie sind auf Grund Ihrer Biografie wohl auch schon immer offen gewesen für die große weite Welt, die Sie nun hierher bringen - in ein kleines Land, wie Sie selbst sagen. Könnte das die Menschen nicht überfordern?

Die Frage, die Sie stellen, ist berechtigt und ein weiterer Grund, warum ich den "Neuen Zirkus" für so geeignet halte. Wie gesagt, ich will die Leute nicht in Galerien, Konzertsäle oder ins Theater lotsen, wo die meisten von ihnen ohnehin nicht hingehen. Zirkusartisten sind seit jeher Nomaden der Kunst, und auch bei "Pilsen 2015" werden sie direkt zu den Menschen kommen. Wenn in der Plattenbausiedlung plötzlich mitten auf der Kreuzung ein Zelt steht, kann das kein Mensch verfehlen. Aus diesem dringen dann Geräusche nach draußen, und vielleicht sehen manche Leute ihre Nachbarn beglückt herauskommen, und möglicherweise gehen sie dann sogar selbst hinein.

Wie sind Sie überhaupt zu Ihrer Aufgabe in Pilsen gekommen? Sie stammen doch aus Prag und leben auch dort.

Ich hatte aber schon immer einen starken Bezug zu dieser Stadt. Meine Familie hatte ihr Sommerhaus in Manětín, das ist 30 Kilometer von hier. Wir haben hier ganze Sommer verbracht und viele Wochenenden. Mt einigen Freunden aus Pilsen bin ich seit dieser Zeit verbunden. Aber es gibt etwas, was für mich in Bezug auf Pilsen noch wichtiger ist.

Das schon erwähnte Bier?

Natürlich auch, aber das ist sicher nicht das einzige. Mein Vater floh aus der kommunistischen Tschechoslowakei und lebte seit 1968 in den USA. Nach acht Jahren durften wir ihn zum ersten Mal besuchen. Er schenkte uns damals Skateboards, die mein Zwillingsbruder Matěj und ich zurück nach Prag brachten. Wir waren damals unter den ersten Skateboardfahrern des Landes. Wir organisierten Wettbewerbe, den ersten in Prag, aber schon den zweiten in Pilsen. Deshalb habe ich in Pilsen bis heute mehr Freunde als in irgend einer anderen Stadt Tschechiens außerhalb Prags.

Gibt es neben dem Sommerhaus und der Pionierarbeit in Sachen Skateboard auch eine Verbindung zwischen Ihnen und Pilsen in Bezug auf die Kultur?

Diese zwei Dinge haben für mich sehr viel mit Kultur zu tun, übrigens auch das Klettern. Fünf Minuten von unserem Sommerhaus war ein wunderschöner Ort namens Koselka, ein kleiner Felsen, durch den ich zum Klettern gekommen bin. Dort habe ich eine Gruppe von Kletterern aus Pilsen kennengelernt, die sich dort ständig ausgetobt haben. Als ich mit dem Theater anfing, hatte ich in Pilsen sofort viele Zuschauer, die alle eigentlich Freunde waren. Es gibt nur zwei Städte in Tschechien, in der alle meine Shows zu sehen waren: Prag und Pilsen, denn das sind die zwei Orte, in denen ich die meisten Freunde habe, die mir wegen ihres konstruktiven Feedbacks wichtig sind.

Oberbürgermeister Martin Zrzavecký nennt neben der Industrie, dem Sport und dem Bier die Kultur als einen der Faktoren, die diesen Ort prägen. Er meint damit traditionelle Institutionen, wie das imposante Josef Kajetán Tyl Theater, die Smetana-Tage oder die 300-jährige Geschichte, auf die das Puppenspiel hier zurückblickt. Wie wollen Sie dieser Tradition Pilsens gerecht werden?

Es gibt hier sogar ein Philharmonisches Orchester. Ich möchte neue Darstellungsweisen wie den "Neuen Zirkus" nicht gegen traditionelle Kunsformen ausspielen. Für mich besteht die Frage nicht darin, was besser oder schlechter ist. Ich glaube aber, dass die etablierten Pilsner Künstler sogar von meinem Programm profitieren werden.

Wie soll ein Akrobat Ihrer Meinung nach einen Heldentenor inspirieren?

Indem ich dem Heldentenor etwas vorführe, was er zuvor noch nie gesehen hat. Es ist meine feste Überzeugung, dass Künstler neue Erfahrungen brauchen, um sich weiterentwickeln zu können. Künstler wie David Dimitri, die Dinge machen, die niemand für möglich gehalten hätte, können die Grenzen des Denkens verschieben. Denn wer neue Erfahrungen macht, entwickelt Fantasie und fängt an, darüber nachzudenken, was er anders machen kann. Insofern ist das Repertoiresystem, in dem die Künstler hier in der Regel arbeiten, kontraproduktiv. Denn in diesem System wirken sie etliche Jahre am selben Theater, spielen mit den immerselben Kollegen vor dem immergleichen Publikum und sind insofern etwas in ihrer kleinen Welt gefangen.

Eine Kulturhauptstadt Europas darf diesen Titel nur dann zu Recht für sich beanspruchen, wenn sie auf dem ganzen Kontinent wahrgenommen wird. Wie wollen Sie es schaffen, dass "Pilsen 2015" möglichst viele Besucher aus dem Ausland anzieht?

Für mich ist entscheidend, dass unser Programm frühzeitig vorgelegen hat, klar strukturiert und leicht verständlich ist. Damit kann jeder möglichst einfach herausfinden, was ihn am meisten interessiert. Abgesehen davon würde ich jedem Besucher raten, das Programm im Umland wahrzunehmen. Denn das ist nicht nur landschaftlich wunderschön, sondern etwa mit den Barockbauten Johann Blasius Santinis auch in kultureller Hinsicht viel attraktiver als das im Ausland bislang bekannt ist.

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