Süddeutsche Zeitung

Europäische Kulturhauptstadt Ruhr 2010:"Komm zur Ruhr"

Weg von Kohle und Stahl, hin zur Metropole Ruhr: Die europäische Kulturhauptstadt Ruhr 2010 öffnet in Essen ihre Tore und begrüßt prominente Gäste. Das "Jahrhundertereignis" soll das veraltete Ruhrgebietimage endlich aufpolieren.

Dirk Graalmann

Am Ende soll es Herbert Grönemeyer richten. Der Sänger hat seine Heimatstadt Bochum und das Ruhrgebiet zwar längst verlassen, doch wenn an diesem Samstag die Europäische Kulturhauptstadt Ruhr 2010 in der Essener Zeche Zollverein feierlich eröffnet wird, wird Grönemeyer zurückkommen, um seine neue Revier-Hymne zu präsentieren.

"Komm zur Ruhr" lautet der offizielle Song zu dieser Mammut-Veranstaltung mit 300 Projekten und knapp 3000 Veranstaltungen, zu denen circa fünf Millionen Besucher erwartet werden.

Die Stadt Essen als Bannerträger und 52 weitere Kommunen wollen das "Jahrtausendereignis" (Ruhr 2010-Geschäftsführer Fritz Pleitgen) nutzen, um endlich das überkommene Ruhrgebiets-Image von Kohle und Stahl, verdreckten Städten und leicht tumben Malochern abzulegen.

Wenn in der Republik eine Umfrage erhoben würde, wie das sogenannte Revier wohl aussieht, kämen die Antworten wohl immer noch Grönemeyers Heimat-Ode "Bochum" aus dem Jahr 1984 erschreckend nahe.

Eine neue positive Identität

Dabei verstaubt die Sonne tief im Westen schon längst nicht mehr, und Taubenzüchter wie Schrebergärtner klagen über Nachwuchsmangel. Auch die Zeiten, in denen die Forderung "Blauer Himmel über der Ruhr" zum Wahlkampfmotto taugte, sind längst passé.

Doch dort, wo man sich lange Zeit negativ abgrenzen konnte als schmuddeliger Hinterhof der Republik, tut man sich schwer mit einer neuen positiven Identität. Die Bilder der rauchenden Schlote, der Zechen und verdreckter Kumpel haben sich tief eingebrannt, bestimmen nicht nur den Blick von außen, sondern haben nachhaltig auch die Eigenwahrnehmung okkupiert.

Während sich etwa in einer städtebaulich äußerst bescheidenden Stadt wie Köln ein pathologischer Patriotismus etabliert hat, trifft man im Revier allzu oft auf eine nicht minder ausgeprägte Selbstkasteiung. Der Mensch im Ruhrgebiet, sagt etwa der Bochumer Kabarettist und Autor Frank Goosen, hätte "dieses Quengelige", die aus der Historie gespeiste Neigung, sich ständig zu beklagen und sich nicht akzeptiert zu fühlen.

Der Bergbau ist längst ein Mythos

Künstler wie Goosen haben die Selbstironie zum Stilmittel erhoben, als reinigenden Akt: "Ja, wir leben unter Tage, unsere Kinder kommen mit 'ner Grubenlampe am Kopp zur Welt und wir haben alle noch einen Förderkorb in der Küche", erzählt Goosen amüsiert. "Da wird morgens die Familie reingetrieben, und in 1000 Metern Tiefe wird dann zum Frühstück an der leckeren Kohle geschleckt." Das Publikum im Revier, erzählt der Kabarettist, würde dann immer besonders befreit lachen.

Denn die Menschen spüren, sehen die Veränderung ja jeden Tag. Während Mitte der fünfziger Jahre mehr als 400000 Menschen im Bergbau beschäftigt waren, sind es jetzt weniger als 30000. Über die Brachen wächst das Gras, sprießen da und dort Museen, Theater, Bürogebäude, Veranstaltungsorte, doch es fehlt die gemeinsame Klammer. Der Bergbau ist nur mehr historischer Kitt, in der Realität längst zum Mythos geronnen. Es gibt gerade noch fünf Zechen im Revier, eine davon - das Bergwerk Ost in Hamm - wird im Herbst 2010 geschlossen.

"Wandel durch Kultur. Kultur durch Wandel" lautet das blumige Motto der Macher. Wie so etwas punktuell gelingen kann, beweist die Zeche Zollverein. Vor 160 Jahren wurde die Zeche in Betrieb genommen, anno 1986 wurde dort letztmals Kohle gefördert. Im Jahr 2001 wurde das imposante, 100 Hektar große Areal, das inzwischen als Museum, Zentrum für Kreativwirtschaft und gefragte Event-Location dient, schließlich durch die Unesco offiziell zum Weltkulturerbe geadelt.

Kulturbereich: Erster Anwärter auf den Rotstift

Doch natürlich ist das Ruhrgebiet trotz seiner spannenden Entwicklung nicht plötzlich eine einzige blühende Landschaft; es gibt Städte wie Gelsenkirchen, die weiterhin das "Armenhaus des Westens" sind, mit erschreckend hohen Arbeitslosenzahlen, Verödung und vielfältigen sozialen Problemen. Die Kommunen sind überschuldet, eine Stadt wie Oberhausen wird Ende des Jahres Verbindlichkeiten von rund 1,8 Milliarden Euro ausweisen, die Folgen dessen, was man nüchtern wie verharmlosend Strukturwandel nennt, sind immens.

Mehr als die Hälfte der Ruhrgebiets-Kommunen unterliegen einem Nothaushalt, können Schulen nicht sanieren und müssen Freizeiteinrichtungen schließen. Der Kulturbereich gehört bei den Kämmerern traditionell zu den ersten Anwärtern auf den Rotstift.

Auch die Macher von "Ruhr.2010" haben die Zurückhaltung schmerzlich zu spüren bekommen. Gerade einmal 62,5 Millionen Euro beträgt der Etat für die Kulturhauptstadt, geplant waren einst 80 Millionen Euro. Es sei, sagt Pleitgen, "irgendwie typisch für das Ruhrgebiet", dass die Wirtschaftskrise "punktgenau" mit der Kulturhauptstadt zusammenfalle.

Picknick auf der gesperrten Autobahn

Mehrere ambitionierte Großprojekte - wie etwa "Zollverein unter Tage" - mussten abgesagt werden, geblieben ist vor allem ein Flickenteppich aus Veranstaltungen, der "eine der ungewöhnlichsten und reichsten Kulturregionen in Europa" (Pleitgen) abbilden soll. Aber die "starken, neuen Bilder", die sich Pleitgen als Katalysator für ein neues Image erhofft, gehen dann doch eher von zwei oder drei Großveranstaltungen aus.

Ende Mai etwa werden im Revier neun Tage lang rund 350 gelbe Ballons in der Aktion "Schachtzeichen" weithin sichtbar über ehemaligen Bergwerksschächten schweben, um sowohl von der Wurzel wie auch Veränderung zu künden. Und wenn am 18. Juli die Ost-West-Autobahn A 40 auf rund 60 Kilometern gesperrt wird, um darauf ein Picknick als kollektives Happening zu feiern, bekommt mancher vielleicht einen Eindruck von der schieren Größe dieser Region mit ihren rund fünf Millionen Einwohnern und einer Fläche von etwa 4435 Quadratkilometern.

Gleichwohl ist das Revier, obgleich drittgrößter Ballungsraum Europas, keine klassische Metropole, auch wenn Fritz Pleitgen gern vom "German New York" schwärmt. Aber das Ruhrgebiet ist eben nicht New York, sondern Essen, Dortmund, Bottrop und Herne.

Die Metropole Ruhr: "Eine Art Überraschungsangriff"

Eine Region, die verwaltungstechnisch bis zum heutigen Tage von drei verschiedenen Bezirksregierungen beaufsichtigt wird, wo Straßenbahnen an Stadtgrenzen anhalten müssen, weil die Schienenbreiten nicht identisch sind, wo eine chronisch klamme Kommune wie Bochum eine eigene Spielstätte für das Symphonieorchester von Steven Sloane bauen will, obwohl im Umkreis von 20 Kilometern bereits die Konzerthäuser in Dortmund und Essen um ihr Publikum rangeln.

Regelmäßig gibt es Vorstöße zu einer gemeinsamen "Ruhrstadt", die ebenso regelmäßig kläglich scheitern.Erst jüngst beklagte Bodo Hombach, der einflussreiche Geschäftsführer der Essener WAZ-Mediengruppe, eine "Überfütterung" der Region mit theoretischen Überbau-Konstrukten. "Das hat alles wenig Entsprechung in der Realität", befand Hombach.

Selbst Ruhr-2010-Geschäftsführer Oliver Scheytt gestand jüngst, dass es die Metropole Ruhr, die nun Europäische Kulturhauptstadt 2010 ist, eigentlich gar nicht gibt: "Wir behaupten das einfach selbst. Das ist eine Art Überraschungsangriff", sagte der frühere Essener Kulturdezernent. Es wäre mehr als eine Überraschung, wenn die Kultur schaffen sollte, was seit Jahrzehnten nicht gelingt: Eine Identität zu schaffen, die sich aus dem Willen zu einer gemeinsamen Zukunft speist.

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SZ vom 09.01.2010
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