Europäische Geschichte:Die Kalküle des Mars

Peter Paul Rubens

„Der durch Mars verkörperte Krieg ist hier zu einem Akteur geworden, der eine verzweifelte Europa hinter sich lässt.“ Herfried Münkler über Peter Paul Rubens’ Gemälde „Die Folgen des Krieges“ (1638).

(Foto: gemeinfrei)

Als die Warlords in Europa die Bühne betraten: Herfried Münklers großes Buch über den Dreißigjährigen Krieg schreibt Geschichte in Möglichkeiten.

Rezension von Gustav Seibt

Am Ende seiner monumentalen Darstellung des Dreißigjährigen Kriegs erklärt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler noch einmal sein Interesse an diesem Stoff: Es geht ihm um eine "modelltheoretische Betrachtung", auch mit Blick auf aktuelle Konflikte in Afrika und im Nahen Osten. Modelltheoretisch, das heißt, dass der Krieg typologisch beschrieben und in Faktoren, Bedingungen, Motive zerlegt wird. Der große Krieg in Deutschland zwischen 1618 und 1648 war ein "Amalgam" aus Verfassungskonflikt, Religionskrieg, Bürgerkrieg und europäischem Hegemonialkrieg.

Er begann mit einem Ständeaufstand in Böhmen, bei dem es auch um freie Religionsausübung ging. Doch sehr bald ging es dann auch um die Frage, wer im Heiligen Römischen Reich überhaupt das Sagen haben würde, der Kaiser oder die Reichsstände. Diese Auseinandersetzung hatte strategische Bedeutung für Spanien, das in einem jahrzehntelangen Krieg mit den abgefallenen Niederlanden stand und dafür die große Durchmarschstraße von den Westalpen bis nach Flandern brauchte, an der ausgerechnet das pfälzische Territorium des erwählten böhmischen Königs lag. Frankreich und Schweden nahmen vitales Interesse an diesen Auseinandersetzungen, sie griffen direkt und indirekt ein, das katholische Frankreich an der Seite der Protestanten.

Auch diese aber waren nicht einig, Sachsen und Kurbrandenburg verhielten sich jahrelang neutral oder wohlwollend zum Kaiser. Hätte dieser rein machtpolitisch gehandelt, hätte der Krieg schon 1629 zu Ende sein können, doch mit seinem vorwiegend religiös motivierten Restitutionsedikt, das die Rückgabe des seit siebzig Jahren säkularisierten Kirchenguts verlangte, sorgte er für die zweite, die schwedische Runde, auf die eine dritte, französische folgte. All das zeichnet Münkler mit einem Detailreichtum nach, den es in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung seit mehr als hundert Jahren nicht mehr gegeben hat.

Im von Hunger und Krankheiten entleerten Land wird der Krieg kleinteilig

Neben den typologischen Unterscheidungen interessieren ihn präzise gesonderte Interessen, Faktoren und Bedingungen, von der Finanzierung bis zur Militärtechnik. Hier erreicht seine Kasuistik eine Präzision und Tiefenschärfe, die aus dem dicken Band ein Lehrbuch für Strategie und Taktik macht, und zwar bis in die Ebene scheinbarer Nebenakteure: Was bewegte Hessen-Kassel im Streit mit Hessen-Darmstadt um Hessen-Marbach? Wir erfahren es, und es ist hochinteressant, weil es in dem großen Drama seine Rolle spielte. Am interessantesten ist die Beschreibung der Kriegsökonomie, von den riesigen Finanzströmen, gewonnen aus südamerikanischen Silberminen oder aus Ostseezöllen, bis zur brutalen Auspressung von Städten und Bauern vor Ort.

Damit kommt ein außerstaatlicher Akteur in den Blick, der Kriegsunternehmer oder Warlord, der die Bühne heute wieder betreten hat. Mansfeld, Wallenstein lauten die berühmten Namen, zu unterscheiden von einem loyalen Fürstendiener wie Tilly oder einem selbst kämpfenden König wie Gustav Adolf von Schweden. Der Krieg ist staatlich, halbstaatlich, oft einfach selbsternährend. Und er verändert sich: In seinen letzten anderthalb Jahrzehnten, im schon ausgesaugten, von Hunger und Krankheiten entleerten Land wird er kleinteilig und volatil, weil er nur noch die verbliebenen Reste abfressen kann. Zu Beginn konnten die Armeen sich umso besser ernähren, je größer sie waren; auch ihr Kredit auf den Finanzmärkten wuchs mit ihrem Umfang. Der angesparte Reichtum von siebzig Jahren Frieden wurde planmäßig verfeuert, die Bevölkerungszahl dürfte um 40 Prozent gesunken sein.

Münklers Methode ist dabei nicht nur die Zergliederung in Typen und Faktoren, sondern auch das Denken in Alternativen. An jedem Punkt seiner Erzählung fragt er, was die anderen Entscheidungsmöglichkeiten gewesen wären. Jede gewonnene oder verlorene Schlacht öffnet neue Optionen, schon in den Himmelsrichtungen des Weitermarschs: Wo steht der Feind, wo ist ein gutes Winterquartier, wessen Interessen müssen geschont werden? Wäre jetzt der Moment für Friedensverhandlungen, für ein neues Bündnis?

So wird aus dem Ablauf der Ereignisse ein Mobile von Möglichkeiten, von ergriffenen oder ausgeschlagenen Chancen. Kaum etwas ist notwendig, vor allem nicht die lange Dauer dieses Schlachtens. Auch Charaktere sind Faktoren: Gustav Adolfs Kühnheit oder Wallensteins Zaudern, die Starrheit Kaiser Ferdinands, die geizige Selbstsucht des Bayern Maximilian oder die schlaue Ängstlichkeit des biertrinkenden sächsischen Kurfürsten.

Dass Kaiser Ferdinand II. so viel betete, kreidet ihm Münkler als Zeitverlust an

Es gibt allerlei hochfliegende Exkurse zu Thukydides und dem "Besitz für immer", den Historie sichert, zu Analogiebildungen zwischen damals und heute. Jacob Burckhardt unterschied trocken zwischen "klug für ein andermal" und "weise für immer", und darauf läuft es am Ende hinaus: Analogien sind nur Annäherungen, interessanter ist die Fähigkeit zur situativen Genauigkeit, und sie ist es, die Münkler trainiert.

Münklers Möglichkeitsdenken kann aber auch auf sein Werk angewendet werden: Wie hätte eine alternative Darstellung aussehen können? Das scheint an einigen Punkten immerhin auf. So beschreibt er das Kontributionssystem Wallensteins in dessen erstem Generalat als eine Form der Besteuerung, vergleichbar jener, die in der gleichen Epoche in den Niederlanden und England zu Revolutionen führte. Deren deutsches Pendant war dann Wallensteins Absetzung 1630. Als Revolution wurde diese Fürstenopposition aber nicht erkennbar, weil sie mit einem Krieg verbunden war, der gleichermaßen als innerstaatlicher wie zwischenstaatlicher geführt wurde: "Der Unterschied zwischen Verfassungswahrung und Verfassungsbruch wurde dadurch unklar." So kam es - für Münkler ist das eine Konkretisierung des deutschen "Sonderwegs" - nicht zur Konstituierung einer revolutionären Partei, denn es genügte, einen General abzusetzen.

Doch solche weiträumigen Durchblicke bleiben die Ausnahme. Münkler unterscheidet lieber "Machtsorten", er beobachtet Fall für Fall die Übersetzung der Kriegstypen ineinander oder er beschreibt im typischen Münkler-Sound, wie die schwedische Intervention die "Grammatik der politischen Entscheidungen" auf die "Ordnung des Binären" umgestellt habe: "In Gefahr und höchster Not/ bringt der Mittelweg den Tod", zitiert er dazu den Dichter Friedrich von Logau.

Die möglichkeitsoffene Erzählung muss sich natürlich auch den militärischen Entscheidungen zuwenden, und so brilliert Münkler in Hans-Delbrück-haft ausführlichen Schlachtenbeschreibungen. Hier vor allem kommt der Zufall zu seinem Recht; ein solcher war Gustav Adolfs Tod in der Schlacht von Lützen. Kontingenz, Möglichkeitsgeschichte, das ist Ereignisgeschichte. Münklers Buch fußt auf generationenlanger Forschungsarbeit, aber es ist bezeichnend, dass der am häufigsten zitierte Vorläufer der Historiker Moriz Ritter ist, dessen Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs 1908 (als Teil eines Sammelwerks) erschien, auf dem Höhepunkt der positivistischen Politikgeschichte. Hans-Ulrich Wehler nannte Diplomatie- und Kriegsgeschichte immer "blutleer" - Münkler zeigt nun, dass in dieser Zitrone noch sehr viel Saft ist.

Dabei vernachlässigt er weder die Kriegsgräuel noch die damit verbundene Rezeptionsgeschichte als "deutsches Trauma" völlig, doch spielen sie nur eine Nebenrolle. Der Hauptpreis, den diese Darstellungsform fordert, ist die Abkühlung der mimetischen Seiten von Historie, also des Versuchs darzustellen, wie es sich angefühlt haben mag. Religiöse Leidenschaft ist eben vor allem ein Faktor; dass Kaiser Ferdinand II. so viel betete, kreidet ihm Münkler in einem Akt nachträglicher Politikberatung als Zeitverlust an: "Diese Zeit fehlte ihm dann bei der Bewältigung seiner politischen Aufgaben."

Jacob Burckhardt sagte, in der Geschichtsschreibung müsse Jubel und Jammer zu Erkenntnis werden. Münkler setzt, und das charakterisiert sein Werk mit einem Satz, ganz auf Erkenntnis, Jubel und Jammer treten in die zweite Reihe. Damit wird allerdings auch ein wichtiger Zugang zur Vergangenheit, die Empathie, vernachlässigt.

Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe und deutsches Trauma 1618-1648. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2017. 975 Seiten, 39,95 Euro. E-Book 29,99 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: