Mein Europa:Das Tier mit 28 Beinen

Die SZ hat sieben Schriftstellern aus EU-Staaten die gleiche Frage gestellt: Wie erklärt man Aliens die Idee Europa? Das sind ihre Antworten.

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Dänemark:Janne Teller

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Quelle: AFP

Guten Tag, Herr Alien. Ich verstehe, dass Sie sich für unser Europa interessieren. Gestatten Sie mir also, Ihnen ein Geheimnis zu verraten: Das meiste, was Sie über Europa hören, mag wahr sein, ist aber nicht das Entscheidende. Je nachdem, wen sie fragen, werden die einen von Verträgen und Dokumenten, von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Währungen und technischen Standards erzählen, andere von verschiedenen Ländern und Menschen, die da zusammenleben, ohne sich zu bekriegen, von Studenten, Arbeitnehmern und anderen Menschen, die sich frei bewegen können. Wieder andere werden mit irgendwelcher Detailkritik kommen, etwa mit der Intransparenz und wie lang das immer dauert in Europa mit Entscheidungsfindungen. Aber nur wenige werden es wagen, Ihnen die Wahrheit zu sagen: Dass unser Europa ein Tier ist. Ein Tier, das einen überwältigt.

Das fängt schon mit der Zahl der Beine an. Wir zählen 28, aber es gibt noch ein paar mehr, die dazu neigen, ihrer eigenen Wege zu gehen, obwohl sie eindeutig an ihrem großartigen Körper hängen. Großartig sage ich, und Europa ist tatsächlich groß, obwohl man es im Vergleich zu einigen anderen Tieren nicht als riesig bezeichnen würde. Es neigt nur dazu, sehr auffällig zu sein, wann und wo immer es sich bewegt. Das mag daran liegen, dass es ein Tier wie kein anderes ist. Von Kopf bis Fuß wechseln ihre Farben ständig: Es strahlt in Pastelltönen wie der Mitternachtssonnenhimmel des Nordens, auf dem Rücken ist es rostrot wie der Herbst in Polen, auf dem Bauch umkleidet es das Türkis der Mittelmeerküste ...

Unser Tier Europa ist ein gutherziges Tier, das über viele Jahre hinweg gelernt hat, sich nicht nur um seine starken, sondern auch um seine schwächeren Flanken zu kümmern. Europa weiß, dass jeder Teil von ihm gleich bedeutsam ist und gleich gut behandelt werden muss. Es ist auch sehr intelligent und hat bemerkenswerte Einsichten gewonnen und sie für das genutzt, was hier auf Erden als moderne Gesellschaft bezeichnet wird. Auch seine Leidenschaften sind vielfältig, aber die wichtigste ist ihm die Kunst. Da ist es in seinem Element, sei es in Poesie oder Literatur, Musik, Malerei, Skulptur oder Architektur.

Zugegeben, es hat in der Vergangenheit einiges falsch gemacht und daher noch viel zu lernen. Im letzten Jahrhundert etwa hat es gelernt, dass Wachstum nicht der Weg zum Glück ist. Dass es auch nicht der richtige Weg ist, reicher oder schneller oder einfarbiger zu werden. Solange es viel zu essen hat (was es tut), Schutz, Wasser und Wärme (von denen auch reichlich vorhanden sind), ist die Sorge um das Wohlergehen unseres Planeten, seiner Bewohner und Lebewesen der wahre Sinn seines Lebens. An dem Tag, an dem es dies wirklich versteht - und dass auch sein eigener Wohlstand davon abhängt -, wird seine wahre Glückseligkeit beginnen.

Ich verstehe, dass Sie sich ein eigenes Europa wünschen, Herr Alien.

Die Wahrheit ist, dass man Europa nicht replizieren kann. Sie können es nur selbst heranzüchten. Und dafür braucht es aufrichtige Liebe. Dieses Europa-Ei, befruchtet von denen, die es wirklich lieben und pflegen, wird also unser Geschenk an Sie sein. Möge Ihr Europa genauso widerstandsfähig sein wie das unsere. Mögt ihr es noch mehr lieben, als wir das tun.

Janne Teller, geboren 1964 in Kopenhagen, lebt zwischen London und Helsingör. Sie schrieb "Europa - Alles, was dir fehlt" (btb 2011). Deutsch von Vanessa Prattes.

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Slowenien:Aleš Šteger

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Quelle: Bernhard Aichiner

Sehr merkwürdig - alle, die wir antrafen, nannten sich Europäer, aber der eine aß Gurken und die andere Nudeln, der dritte Bärenfleisch und der vierte versicherte mehrmals, er ernähre sich ausschließlich von Nächstenliebe. Aber ausgerechnet der wurde dann zugleich nervös, ungehalten, sogar aggressiv, sobald ein paar seiner Artgenossen, die Haut violetter und dichter gestreift als er selber, sich um ihn versammelt haben.

Wir haben wirklich nichts Verbindendes unter diesen Europäern feststellen können außer der Tatsache, dass ausnahmslos alle davon überzeugt waren, besser, reflektierter, gewiefter als der Rest zu sein, das heißt als alle anderen, an erster Stelle die ihresgleichen. Allen gemeinsam waren also weder der Spinat noch die Alpen oder die Eisenbahn, sondern eine stolze, fast höhnische Attitüde, etwas zu wissen, was ihrer Meinung nach keiner von uns, ja nicht mal ein gewöhnliches Wesen von ihrem eigenen Planeten weiß.

Ja, Hohn, das trifft es gut. Vermutlich hing mit diesem Hohn auch die seltsame Aufdringlichkeit ihren Nächsten gegenüber zusammen, ja sogar uns fernen Besuchern gegenüber. Sie waren ganz scharf darauf, dass wir von ihrem Geheimnis naschen und kosten, aber bloß nicht zu viel, damit sie weiterhin in der Position blieben, dass sie uns immer wieder eines Besseren belehren konnten.

Außerdem wollten sie sofort wissen, ob wir Krankenschwestern auf unseren Planeten ausbilden, ob es sich lohnen würde, Waffengeschäfte zu machen, wie es bei uns mit Rohstoffen aussieht, und ob es bei uns Lebewesen gibt, die es lohnte auf ihren Planeten zu schmuggeln, um sie zum Rasenmähen oder im Zirkus einzusetzen oder gar anstelle von Rindfleisch in ihre sogenannten "Burgers" zu verarbeiten.

Jedes noch so gottverlassene Wesen taugt für etwas Gutes, schmunzelten sie (und setzten leise dazu: außer den Syriern, Italienern, Slowenen und natürlich Albanern). Es ist wunderbar und einmalig, was sich hinter dem Namen Europa verbirgt, sagten sie. Kultur, viel Kultur, und jede Menge an Geschichte, sagten sie. Unsere Übersetzungsmaschine begann zu gären. Was war damit bloß gemeint? Ihr Nasenbohren? Die Herstellung von Seife aus Menschen oder schlicht und einfach der Anfang von ihrem Ende, den sie unter dem Begriff Klimawandel zusammenfassten?

Wir fragten wieder nach. Sie antworteten leidenschaftslos, ja fast der eigenen Existenz überdrüssig und zugleich in mehr Sprachen als es Mitredner gab. Wir waren etwas verwirrt, zumal bald unter ihnen ein heftiger Streit ausbrach, eine richtige Schlägerei, die wir erst mit unseren Lasern beruhigen konnten. Vielleicht war es lokale Folklore oder ein Ritual, wie wir es bei fleischfressenden Pflanzen oder Skorpionen beobachtet haben. Wir werden es nicht erfahren. Unsere Übersetzungsmachine dampfte noch kurz und war dann futsch. Zu unserer Verwunderung aber machte unser Unglück die Europäer sehr glücklich. In dieser Schadenfreude waren sie dann wieder innig vereint.

Aleš Šteger wurde 1973 im damals jugoslawischen Ptuj geboren und lebt heute im slowenischen Maribor. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Gedichtband "Über dem Himmel unter der Erde" (Hanser 2019).

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Griechenland:Amanda Michalopoulou

May 02 2008 New York New York USA The writer AMANDA MICHALOPOULOU PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTx

Quelle: imago/ZUMA Press

Meine lieben Aliens, meinen Sie das im Ernst? Ich möchte Sie nicht entmutigen bei Ihrem Vorhaben, aber haben Sie irgend eine Ahnung davon, wie viele Jahrhunderte wir gebraucht haben, seit sich Europa auf die Hinterbacken des Stiers gesetzt hat? Sie war ein ganz junges Mädchen und hat Blumen gepflückt, und der Stier (eigentlich Zeus) hat ein Stück weiter weg gegrast und den geeigneten Augenblick abgewartet, um sie zur Seite zu nehmen.

Wie bitte, wer Zeus war? Du lieber Gott, wo soll ich denn da anfangen? Also, Zeus war der klassische Mann. Das, was man ein mythisches Vorbild nennt. Er erlag seiner Lust: Er sah das Mädchen, begehrte es, zeugte sogar zwei Kinder mit ihr, dann hatte er die Familie satt und stieg auf den Olymp, um zu denken. Kennen Sie vielleicht das Gemälde von Veronese? Den Raub der Europa, wo das arme Ding in seinen rosa Gewändern und dem goldenen Leibchen dasitzt und zu begreifen versucht, wie das alles gekommen ist? Varoufakis? Welcher Varoufakis? Ve-ro-ne-se!

Also wenn Sie überhaupt nichts von Mythologie und Malerei wissen, kommen wir nie auf einen grünen Zweig. Ich soll Ihnen Nachhilfestunden geben, meinen Sie? Und womit soll ich anfangen? Mit den alten Griechen, dem Cro-Magnon-Menschen oder mit der Reformation, um das Ganze etwas zu beschleunigen? Oder lieber mit dem Westfälischen Frieden und den zwei Weltkriegen? Oder einfach gleich mit der EU, damit wir es so schnell wie möglich hinter uns bringen?

Zuallererst frage ich Sie: Haben Sie Flüsse in Ihrer Galaxie? Denn Europa ohne Donau geht gar nicht. Wenigstens Seen? Hohe Gebirge, Alpen, Karpaten, den schon erwähnten Olymp? Denn wissen Sie, man braucht einen Raum, in dem sich das ganze Drama abspielen kann - schon mal etwas von Psychogeografie gehört? Land, liebe Leute, Felder, Häfen, Zugang zum Meer! Den Westen, den Osten, das Phänomen, zu beanspruchen, was man gar nicht besitzt, Eroberungskriege zu führen, und so Schicht um Schicht die gemeinsame Zeit zu erschaffen. Das gemeinsame Trauma. Ob wir uns gegenseitig verletzt haben? Ach je. Ich fürchte, wir haben viel Arbeit vor uns.

Also, ich kann Ihnen ein paar Romane zu lesen geben und mich nachher mit Ihnen darüber unterhalten. Anna Seghers und László Krasznahorkai. Ob diese Autoren melancholisch sind? Aber sicher. Wir sind melancholische Menschen, uns sind unglaubliche Dinge passiert. Aber ich kann mir auch etwas Heitereres ausdenken: Rabelais, Cervantes oder Virginia Woolfs "Orlando". Und Sie notieren sich die unbekannten Wörter und die unbekannten Situationen. Die sind alle drei wirklich witzig, Sie werden sich biegen vor Lachen.

Wie bitte? Lesen ist eine rückschrittliche Technologie? Dann sollten wir das wohl lieber vergessen. Europa ohne Kultur ist ... Wirklich, Sie bringen mich dazu, mich zu hassen! Ich höre mich an wie ein Europaabgeordneter auf der Rednerbühne!

Sie könnten sich aber vielleicht ein Post-Europa ausdenken, ein Konstrukt, ja, das ginge. Etwas Eigenes, etwas Hybrides - oder besser Post-Hybrides, denn das Hybride sind ja schon wir. Aber ich warne Sie, das wird unecht. Es wird wie eine amerikanische Mall, Hollywood mit Römerhelmen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Würden Sie so etwas mögen? Also, ich habe nichts dagegen, Ihnen zu helfen, hier sind wir absolut ausverkauft, was soll ich mich jetzt mit Kleinigkeiten aufhalten? In meinem Land geben wir Freiberufler unser halbes Einkommen dem Finanzamt, machen Sie mir also ein gutes Angebot, dann lässt sich darüber reden. Was meinten Sie? Nein, nein, ich nehme nur Euros.

Amanda Michalopoulou wurde 1966 in Athen geboren, wo sie heute wieder lebt. Ihre Erzählungen und Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt. Deutsch von Birgit Hildebrand.

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Österreich:Eva Menasse

Eva Menasse

Quelle: dpa

Liebe Aliens,

auf jeder Party drängen sich die Leute am liebsten in der Küche zusammen. Unsere Küche heißt Europa, sie ist klein, aber der faszinierendste Ort auf unserem Planeten. Hier gibt es fast alles, was es anderswo auch gibt, Berge, Täler, Flachland, Seen und Meere, dazu eine Unzahl Sprachen - unsere Küche ist sozusagen der Showroom für das Ganze. Schaut dort vorbei, und ihr habt das meiste gesehen.

Außerdem scheint von Anfang an das Raumklima besonders angenehm gewesen zu sein, nicht zu kalt und nicht zu warm, auch der Zugang zu den Getränken war jederzeit gesichert (alles, was man aus Wasser machen kann). Oder vielleicht mögen unsere Planetarier einfach die Enge so gern, wer weiß. Fest steht, dass die, die sich in der Europa-Küche drängen, einerseits schon immer sehr verschieden waren, andererseits die besten Ideen hatten. Sie haben praktisch alles erfunden, was auf unserem Planeten wichtig geworden ist.

Die, die heute in Amerika leben (ein anderer, viel größerer und eintönigerer Raum) und auf gewissen Gebieten führend geworden sind, stammen ursprünglich auch von dort, sie mussten mal gehen, als in der Küche wieder die Fetzen flogen. Das nämlich geschah regelmäßig: Tobsuchtsanfälle und Massaker wegen Platzmangel und vermeintlicher, überbetonter Verschiedenheit. Aber wenn sie sich nicht gerade umgebracht haben, haben sie die herrlichsten Dinge gebaut, gemalt, geschrieben, erdacht und gemacht. Die Küchenbewohner sind geniale Künstler und Erfinder, aber auch verrückte Streithanseln. Das ist die jahrhundertalte Konstante.

Vielleicht bedingt ja das eine das andere? Nachdem sie zum bisher letzten Mal fast alles in die Luft gejagt und ein nie dagewesenes Blutbad angerichtet haben, kamen die Europäer endlich auf die Idee, ein paar allgemeingültige Küchenregeln zu formulieren. Das hat eine Weile gut geklappt, sie sind heute so reich wie nie zuvor. Jetzt allerdings haben sie das Problem, dass der Rest des Planeten auch Zutritt einfordert, weil es ja wirklich nicht fair ist, wie sicher und gemütlich sie es haben, und das durchaus auf Kosten aller anderen.

Na ja, und so geht das Streiten eben wieder von vorn los. Außer die Küchenregeln wieder außer Kraft zu setzen sowie die Küchentür mit Stahlplatten zu verriegeln, haben sie bisher keine nennenswerten Ideen gehabt. Eine Ecke der Küche hat bereits empört ihren Austritt erklärt, aber niemand weiß, wohin damit. Sie ist ja trotzdem Teil des kleinen Raums. Meine Vermutung ist: Statt mit ihrem Geld, ihrer Macht und geballten Kreativität eine faire Lösung für die ganze Wohnung zu suchen, werden sie sich untereinander wieder sehr viel ärmer streiten, denn dann wollen hoffentlich nicht mehr so viele zu ihnen hinein.

Ob ihr so etwas auf eurem Planeten auch braucht? Ich meine schon, denn zum Zuschauen bleibt es spannend.

Eva Menasse wurde 1970 in Wien geboren. Sie lebt heute in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Erzählungsband "Tiere für Fortgeschrittene" (Kiwi 2018).

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Tschechien:Jaroslav Rudiš

Jaroslav Rudis

Quelle: Jens Kalaene/dpa

Mein Europa? Das sind die Eisenbahnschienen, Weichen, Tunnel, Brücken, Lokomotiven, Züge, Bahnhöfe, Bahnsteige und auch die Bahnhofsgaststätten. Schon als Kind war ich von dem riesigen europäischen Eisenbahnnetz fasziniert und überwältigt. Natürlich, 1985 war es auf dem Lokalbahnhof in Lomnice nad Popelkou im Böhmischen Paradies (so heißt die Gegend, in der ich aufgewachsen bin) nicht möglich in den Zug einzusteigen und einfach so nach Paris oder München zu fahren. Doch ich machte diese Reisen trotzdem. In meiner Lieblingslektüre damals, im Fahrplan der Tschechoslowakischen Staatsbahnen (ČSD), gab es, ganz am Anfang, ein kurzes, aber spannendes Kapitel mit den internationalen Verbindungen. Von Prag nach Paris, nach Rom oder Stockholm. Sogar Lissabon war in der Fantasie erreichbar. Und so saß ich oft im Zug und träumte von den langen Strecken, den Nachtzügen und vom morgendlichen Erwachen in Venedig, Athen oder Madrid.

Heute genieße, ja zelebriere ich diese Freiheit, die uns Tschechen geschenkt wurde, und die einige von uns leider in der letzten Zeit nicht gerade schätzen. Ich sitze oft im Zug. Ich schreibe dort. Ich schlafe dort. Ich esse dort. Ich lebe dort. Meistens irgendwo zwischen Deutschland, Tschechien, Österreich, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Polen und der Slowakei, doch auch nach Amsterdam, Lviv, Brüssel oder Paris fahre ich, wenn es geht, mit der Eisenbahn. Und es geht fast immer. Manche meinen, mit Bahnfahren verliert man viel Zeit, doch so ist es nicht, im Gegenteil, man gewinnt die Zeit. Und es gibt keinen schöneren Weg, unser Europa kennenzulernen als mit der Eisenbahn. Und je langsamer der Zug fährt, desto besser ist es.

Mein Europa, das sind auch die Fahrgäste im Abteil oder im Speisewagen, die leise oder laut sind, trinken oder beten, weinen oder lachen, sich streiten und wieder versöhnen. Und gerne dabei Geschichten erzählen, die ich mir oft, ganz unauffällig und heimlich, aufschreibe. Mein Europa sind auch die Fahrgäste, die alles, was sich hinter dem Fenster abspielt, ununterbrochen kommentieren, vielleicht um es für den kurzen Augenblick festzuhalten. Die Burgruinen und die Bergspitzen, die Wildschweine und die Fichten im Wald.

"Wir können überall aussteigen, es ist doch überall schön", sagte neulich ein älterer Herr zu mir im Zug zwischen München und Wien. Er hatte recht. Alles so malerisch schön. Alles aber auch so traurig schön. Denn auch wenn man Züge so liebt, darf man dabei nicht die schreckliche Rolle der Eisenbahn vergessen in den Zeiten von Krieg und Vernichtung.

Mein Europa, das sind auch all die Eisenbahner, die davon einiges wissen und beim Bier auch davon erzählen. Zum Beispiel in der Bahnhofsgaststätte in Liberec, in Reichenberg in Nordböhmen, die alles überstanden hat. In Liberec fertigte mein Onkel die Züge als Fahrdienstleiter ab. Sein Bahnhof hat viel Trauriges in der Geschichte durchmachen müssen. Den Krieg von 1866 zwischen Preußen und Österreich, den Krieg 1914-1918, die Zerschlagung der Tschechoslowakei und die Besetzung der Stadt von den Nazis 1938 nach dem Münchner Abkommen, die Transporte der einheimischen Juden nach Theresienstadt und Auschwitz, die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, die sowjetische Okkupation 1968. Man muss nur kurz die Augen schließen und alles ist wieder da.

Ich denke oft darüber nach, wenn ich in Liberec in der Bahnhofskneipe sitze, Bier trinke und auf den Anschluss warte. Und dann steige ich wieder in den Zug ein und lasse mich, leicht angetrunken, immer weiter durch unser Europa treiben.

Jaroslav Rudiš wurde 1972 im damals tschechoslowakischen Turnov geboren. Heute lebt er zwischen Lomnice nad Popelkou in Böhmen und Berlin. Für seinen Eisenbahnroman "Winterbergs letzte Reise" (Luchterhand, 2019) war er für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

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Schottland:A. L. Kennedy

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Quelle: Isolde Ohlbaum

Wir neigen dazu, uns gegenseitig umzubringen - und wir hassen uns gegenseitig in einer Weise, die mit Aussehen, Überzeugungen oder anderen irrationalen Dingen zu tun hat. Wir fühlen uns zu furchtloser Dominanz hingezogen, was ein psychopathologisches Merkmal ist und normalerweise schreckliche Führer hervorbringt. Ein Prozentsatz der Menschen ist das, was wir Psychopathen nennen. Sie mögen es, andere Menschen zu töten, zu demütigen und zu foltern. Wenn sie die Macht übernehmen, können sie genügend normale Menschen dazu bringen, sich auch wie Psychopathen zu verhalten. So können sich ganze Länder und Kontinente in Schlachtfelder verwandeln.

Wir haben solche Dinge über Jahrhunderte toleriert, aber nach einem besonders schlimmen Ausbruch von Mord, Folter und Selbstmord im 20. Jahrhundert haben wir beschlossen, uns mehr darum zu bemühen, alle am Leben und glücklich zu halten. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Wesen seid, die diese Art von Konstruktionsfehler auch haben.

Ich schätze, dass ihr herausgefunden habt, wie ihr erfolgreich zusammenleben könnt. Schließlich habt ihr das interstellare Reisen ermöglicht, und das erfordert bestimmt viel Zusammenarbeit und Organisation. Vielleicht flieht ihr vor einem verschmutzten Planeten, in diesem Fall könnte unsere Vorstellung von einem vereinten Europa von Nutzen für euch sein, denn sie basiert auf dem Glauben an die Zukunft unserer Spezies und an die Sorge um jedes einzelne Mitglied dieser Spezies. Bestrafungen gibt es nur für Übeltäter. Gegenwärtig haben wir das, was an Europa am besten war, aufgegeben oder geschwächt, aber das hat uns wieder daran erinnert, warum wir es als politische, soziale und kommerzielle Organisation geschaffen haben.

Historisch gesehen hatten wir Europäer - wie andere auf anderen Kontinenten auch - die Gewohnheit, Menschen als Sklaven auszubeuten. Wir haben sogar versucht, sie als Rohstoff zu verwenden oder als Haarquelle für Polsterungen. Wir haben Körperteile als Trophäen und als Exponate in Ausstellungen gesammelt, sie sollten beweisen, dass wir den von uns getöteten Menschen überlegen waren.

Wir glauben glamouröse und beängstigende Lügen sehr leicht. Wir misstrauen Menschen, die wir persönlich nicht kennen. Das bedeutet, dass wir feste Strukturen und Abwehrmechanismen brauchen, um zu verhindern, dass wir uns selbst oder anderen Schaden zufügen.

Europa ist eine geografische Region, zu der eine Reihe kleinerer Länder gehört. Früher sagte man manchmal, dass es sich bis nach Westrussland erstreckt, manche entgegneten, es sei im Grunde nur auf Deutschland, Frankreich und vielleicht noch Belgien beschränkt. Mit einem gemäßigten Klima und einer großzügigen Vielfalt an Ressourcen war es über Jahrhunderte in der Lage, stabile Gesellschaften zu beherbergen und nützliche Technologien zu entwickeln. Verbindungen mit dem Nahen und Fernen Osten und den Amerikanern erlaubten es Europa, sich viele technische und technologische Entwicklungen zu leihen und sie dann weiterzuentwickeln.

Aufgrund dieser Ressourcen und Zufälle florierte Europa. Mit mächtigen Waffen ausgestattet, reisten wir in Länder, die damals weniger organisiert und technologisch weniger entwickelt waren. Im Namen verschiedener Herrscher und Sekten innerhalb einer Religion namens Christentum fielen wir als konkurrierende kommerzielle Wesen ein. Europa hatte eine lange Tradition des humanen Denkens und der politischen und geistigen Ideen zu Frieden, Freiheit, Einheit und Stabilität. Diese Theorien entstanden oft in gewalttätigen Imperien, die sie ignorierten oder unterdrückten, oder sie wurden als Schaufensterdekoration für blutrünstige Taten verwendet. Natürlich war es für die kleinen, drangsalierten Länder Europas sehr schwierig, zusammenzuleben, und als die Ressourcen der Welt erschreckend schnell weniger wurden und unbesetztes Gebiet nicht mehr zur Verfügung stand, eskalierten die Konflikte. Die ökonomische Disziplin, die dem monetarisierten Krieg und Diebstahl zugrunde lag, wurde Kapitalismus genannt.

Sie stützte sich auf ausgebeutete Arbeitskräfte, Krieg und ewigen Verbrauch begrenzter Ressourcen und machte daher viele Menschen ziemlich unglücklich und krank oder tötete sie. Die Idee einer winzigen, rücksichtslosen Minderheit von Führern und Kapitalisten, die immer größere Anteile der Bevölkerung in sinnlose und verschwenderische Kriege stürzte, führte zu Zyklen blutigen Widerstands. Im 19. und 20. Jahrhundert begannen verschiedene herrschende Klassen, mit etwas zu experimentieren, das sie Demokratie nannten. Sie taten dies unter dem Druck der einfachen Menschen, die nicht unglücklich, krank oder tot sein wollten und die mehr oder weniger nachdrücklich klarmachten, dass sie die Führer und Kapitalisten unglücklich und krank machen oder töten könnten. Die Gewohnheit, Führer und Rebellen zu töten und zu verhaften, war auch in Europa zyklisch.

Die Demokratie, eine alte griechische Idee, bot einen Weg, mehr Menschen die Möglichkeit zu geben, das Schicksal ihrer Nationen mit weniger Gewalt, Krankheit, Tod und Unglück zu gestalten. Diese Idee wurde von Denkern und Führern fragmentiert, von denen einige es vorzogen, Extremsituationen, Konflikte und die ultimative Möglichkeit, gewalttätige Macht in ihren Händen zu konzentrieren, zu nutzen. Die wichtigsten Antworten des 19. und 20. Jahrhunderts auf die Demokratie hießen Kommunismus und Faschismus, Sozialismus und Anarchie. Der "Faschismus" passte perfekt zu unserer Liebe für ungezügelte Gewalt und eigennützige Diebstähle, kombiniert mit dem Gefühl rassischer und religiöser Überlegenheit.

Der Faschismus des 20. Jahrhunderts versuchte, Gewalt und gewalttätige Mythen wie nie zuvor mit dem Kapitalismus zu verbinden. Er wurde als fröhlich brutaler Kult geboren, der die rassische und intellektuelle Reinheit und verschiedene Mythen über die Zukunft und den menschlichen Fortschritt verehrte.

Der Sozialismus experimentierte im 19. Jahrhundert mit komplexen Vorstellungen von Teilhabe und kommunaler Verantwortung, die auf Demokratie beruhten - dies schien einigen Menschen zu anstrengend und ermüdend zu sein und barg die Gefahr, dass einfache Menschen an die Macht gelangen könnten. Im frühen 20. Jahrhundert entstand in Osteuropa der Kommunismus. Obwohl er die Ziele des Sozialismus zu teilen schien, brachte er bei seinen Anhängern eine masochistische Vorstellung von persönlicher Schuld und Verantwortung hervor.

Der Faschismus entwickelte die unter dem Kapitalismus geborene Masseninhaftierungs- und Mordmaschinerie (und andere, ältere Arten von Herrschaft und Religion) zu einer völlig irrationalen Industrie der Zerstörung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts vernichtete diese Todesmaschine Millionen von Menschen. Auch der Kommunismus experimentierte mit Massenmord und Inhaftierung. Nach der Niederlage des Faschismus im Zweiten Weltkrieg nahm er viele Praktiken des Faschismus in Sachen Massenmord und Gedankenkontrolle auf. Russland und seine Satelliten wandten sich von Europa ab.

Der Aufstieg des Faschismus beendete fast das überlebensfähige Leben in dem geografischen Gebiet, das Europa genannt wird, und lieferte eine düstere Demonstration dessen, was passieren könnte, wenn die Menschen all ihre schlimmsten Eigenschaften ausleben würden. Das hatte zur Folge, dass sich verschiedene Länder innerhalb Europas zusammenschlossen, um weiteres Leid zu verhindern. Sie legten grundlegende Normen fest, wie Menschen miteinander umgehen sollten. Es wurden rechtliche und erzieherische Anstrengungen unternommen, um den üblichen Einsatz von Folter, Regierungsraub, Lügen auf Massenmedienebene, ungerechtfertigte Inhaftierungen, grausame medizinische Experimente und Korruption zu verhindern. Es sollten all die Dinge verhindert werden, die Geld und Ressourcen von den Bemühungen ablenkten, alle so glücklich wie möglich zu machen. Dieses europäische Projekt verlief recht gut. Es verstärkte die humanen Werte, die den Faschismus im Zweiten Weltkrieg besiegt hatten. Es wurden kooperative Organisationen gegründet und sogenannte Menschenrechtsgesetze verabschiedet. Handel und Industrie florierten.

Russland, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein vereintes Europa als Rivalen gesehen hatte, versuchte, eine vereinte EU und ihre Gesetze gegen Kleptokratie und Menschenrechtsverletzungen zu untergraben. Amerika fiel unter die Macht von bösartigen Schauspielern und Faschisten, die als Kleptokraten und Folterer erfolgreich waren.

Unsere Führungskräfte werden schwach und amoralisch. Schauen Sie sich mein Land an: Einst Wiege der Menschenrechtsgesetze, verkam das Vereinigte Königreich zu einem Hort der kleptokratischen, korporativen und faschistischen Propaganda, mit einer Agenda, die darauf abzielte, Europa zu spalten. Dies erwies sich als so schädlich für das Vereinigte Königreich, dass es ein vereintes Europa daran erinnert hat, warum es geschaffen wurde und warum seine Werte wichtig sind.

Gegenwärtig kämpfen in Europa das Menschenrechtsgesetz, die Staatsbürgerschaft, die integrative Nationalität und die soziale Verantwortung gegen kommerzielle Rechte, Ausbeutung, bewaffnete Vorurteile und Rassismus. Entweder werden wir die Werte wiederentdecken, die Europa vereint haben und die der Mehrheit der Einwohner jahrzehntelang Bewohnbarkeit und Frieden beschert haben, oder wir werden in großer Zahl sterben.

A. L. Kennedy, geboren 1965 im schottischen Dundee, ist britische Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr auf Deutsch der Roman "Süßer Ernst" (Hanser 2018). Deutsch von Maximilian Senff.

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Italien:Mario Fortunato

Portrait de l ecrivain italien Mario Fortunato 2014 Photographie AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT PUBLICAT

Quelle: imago/Leemage

Zuerst habe ich Herrn Alien darauf hingewiesen, dass es gefährlich ist, ohne Erlaubnis im Garten eines Fremden zu landen, besonders hier, in Collevecchio, Italien. Denn es gibt hier einen Typen, der bewaffnet ist, alle Häfen schließen will und es mit den Ausländern hat: Man stelle sich vor, was erst passiert, wenn er einen Außerirdischen sieht. Gleichwohl, ich habe sofort verstanden, dass der Herr Alien eine kultivierte Person ist. Er hat sich für die Landung entschuldigt und angeboten, meinen Rosen ein wenig Wasser zu geben.

Ich habe ihn ins Wohnzimmer eingeladen und wollte ihm schon einen Tausch anbieten: "Schauen Sie, angesichts der Lage in Italien, die dieser bewaffnete Typ geschaffen hat, bin ich bereit, Ihnen alles über die EU zu erzählen, wenn Sie mich dafür nur von diesem Kerl wegbringen." Aber dann hab ihm erst mal einen Cappuccino angeboten.

Den fand er ausgesprochen lecker. Er hat mich sogar gefragt, wie man ihn zubereitet. Daraufhin habe ich ihm anhand des Kaffees gleich das große Ganze erklärt: "Dank der EU können Sie so einen Cappuccino in Neapel, in München oder sogar in Brüssel trinken." Herr Alien hat seine drei Augenbrauen gehoben und ein enttäuschtes Gesicht gemacht. Ich habe weiter erklärt: "Okay, das war vielleicht kein gutes Beispiel. Was ich meine: Sie können von München nach Neapel reisen, ohne Pass oder Visum, Sie können dasselbe Geld benutzen und sich auf die Zutaten verlassen, wegen der Lebensmittelkontrollen. Erscheint Ihnen das wenig?"

Dieser Herr Alien ist kein einfaches Wesen. Er hat mich verstehen lassen, dass ihm diese Errungenschaften gering erschienen. Ich habe mich gezwungen gesehen, auf mein Handwerkszeug zurückzugreifen: Das ist, in meinem Fall, die Literatur. Ich habe ihm gesagt, dass ich in meiner Jugend zu lesen begonnen habe und es seitdem tue. Ich habe Goethe gelesen, Virginia Woolf und Proust, und Simenon, Strindberg, Kavafis und Cervantes, Pessoa, Bernhard, Márai und Primo Levi. Und immer ist es mir so erschienen, als wenn in ihren Büchern die Wurzel der Kultur und der Menschlichkeit zu erkennen sei, und dass das auch meine Wurzeln sind. Wurzeln, die mindestens so verzweigt sind, wie man auf diesem Kontinent (Inseln eingeschlossen) Sprachen spricht. Lauter Sprachen, die auf ein Gemeinsames zurückgehen: auf eine Vorstellung vom Menschen, die zum ersten Mal in der antiken griechischen Philosophie entwickelt wurde. Eine Vorstellung, die keine Abstraktion ist, weil eine ganze Kultur darauf zurückgeht - die unsrige. Eine Kultur, die den Sozialstaat erfunden hat, die Gesundheitsfürsorge für alle, die Schulpflicht und sogar die Billigflüge.

Nichts. Der Herr Alien wirkte immer noch verwirrt. In seiner Galaxis gibt es keine Literatur. Soviel zu meiner Idee eines Tauschs. Dann habe ich das einfachste Argument hervorgeholt und gerufen: "Ich könnte mir vorstellen, dass auch bei Ihnen das Konzept des Krieges bekannt ist. In Europa haben wir immer Krieg geführt, Jahrhundert nach Jahrhundert, aus Gründen, die so peinlich sind, dass man sie gar nicht nennen möchte. Als die EU erfunden wurde, haben wir den Krieg aufgegeben. Wenn Ihnen das auch noch gering erscheint, dann schicke ich Sie raus in dieses Land - und außerdem schulden Sie mir zehn Euro fürs Parken."

Mario Fortunato, geboren 1958, ist Journalist und Schriftsteller. Auf Deutsch erschien zuletzt die Essaysammlung "Spaziergang mit Ferlinghetti" (Schöffling, 2011). Deutsch von Thomas Steinfeld.

© SZ.de/tmh
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