Europa in der Krise:Brückenkopf des Nationalismus

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Akut gefährdetes Verbindungsglied: Die am 1. Juli 2000 eröffnete Öresundbrücke hat Dänemark und Schweden einander nähergerückt. (Foto: imago)

Die Öresundbrücke zwischen Schweden und Dänemark ist vom Symbol der Vereinigung zum Symbol der Krise Europas geworden.

Von Thomas Steinfeld

Zu den frühen Erfolgen des dänischen Regisseurs Lars von Trier gehört die Fernsehserie "Riget" ("Hospital der Geister", 1994). Darin steht eines Nachts Stig Helmer, Oberarzt in der neurochirurgischen Abteilung des "Reichshospitals" in Kopenhagen, auf dem Dach der Klinik und schaut hinaus über den Öresund. Er ist Schwede, er hasst die Dänen, und auf der anderen Seite liegt nicht nur sein Heimatland, sondern auch das damals noch in Betrieb befindliche Atomkraftwerk Barsebäck. "Mit Plutonium werden wir den Dänen in die Knie zwingen", murmelt er vor sich hin, als er mit seinem Feldstecher die Kühltürme am anderen Ufer erblickt, "hier Dänemark, ausgeschissen aus Kalk und Wasser, und dort Schweden, in Granit geschlagen."

Dann macht er eine kurze Pause, und schließlich schreit er in die schwarze Nacht hinaus: "Danskjävlar" - einen Fluch, der in der Synchronfassung mit "dänischer Abschaum" nur matt wiedergegeben ist. Zwei Jahrzehnte lang konnten Dänen und Schweden über diese Figur lachen: Sie war ein Denkmal nationalen Wahns. Zugleich steckte genügend Wahrheit in ihr, um sie nicht ganz und gar albern erscheinen zu lassen.

Ausweise mitnehmen? Das war lange Zeit überflüssig

Während dieser Zeit wurde das Atomkraftwerk abgeschaltet und eine Brücke über den Öresund gebaut, über die nun jeden Tag fast hunderttausend Menschen von der einen auf die andere Seite fahren, per Automobil oder Zug - fünfmal so viel, wie noch 1999, im letzten Jahr vor der Einweihung der Brücke, über die Grenze gekommen waren.

Ausweiskontrollen gab es an der Brücke nicht, und es hätte sie auch nicht gegeben, bevor Schweden im Frühjahr 2001 dem Schengener Abkommen beitrat. Denn die nordischen Staaten hatten schon im Jahr 1954 eine "Passunion" geschaffen. Sie hob zwischen diesen fünf Staaten nicht nur die Pflicht auf, beim Grenzübertritt einen Pass mit sich zu führen, sondern machte es weitgehend überflüssig, sich überhaupt ausweisen zu können - von Führerscheinen, Kreditkarten und anderen Patenten einmal abgesehen. Beinahe schien es, als gäbe es im Norden kein Ausland mehr.

Kontrollen an einer Grenzstation aus Bauzäunen und Spanplatten

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Schweden hat kürzlich Grenzkontrollen eingeführt, die Dänen ziehen sofort nach. Künftig wollen sie sogar Wertgegenstände von Flüchtlingen beschlagnahmen.

Von Silke Bigalke

Im Dezember 2015 steht Per Svensson, Kolumnist der regionalen Tageszeitung Sydsvenska Dagbladet, im obersten Stockwerk eines Bürogebäudes in der Innenstadt von Malmö und schaut über den Öresund. Er zeigt auf die Brücke, die sich am Horizont nach Westen schwingt. "Die Politiker in Stockholm können sich nicht vorstellen", sagt er, "dass Kastrup unser Regionalflughafen ist." Kastrup heißt auch "Copenhagen Airport" und liegt am dänischen Ufer der Meerenge.

Ein paar Tage lang hatte die schwedische Regierung im Dezember daran gedacht, ein Gesetz zu erlassen, mit dem sich die Brücke über den Öresund ohne Vorwarnung hätte sperren lassen, der Flüchtlinge wegen, von denen an manchen Tagen bis zu zehntausend über die Brücke kamen. Dann wäre vorübergehend keiner mehr ins Land gelassen worden. Der Plan ließ sich nicht durchsetzen, weder im Parlament noch im Gesetzgebenden Rat. Was nun stattdessen eintritt, ist aber kaum weniger rigoros.

Kopenhagen und Malmö sollten zu einer Metropole verschmelzen - das ist nun fraglich

Es fahren keine Fernzüge mehr von Kopenhagen nach Schweden, in den Regionalzügen muss schon seit Wochen jeder Passagier einen Ausweis oder Pass vorzeigen, und ab dem 4. Januar wird es wohl gar keine Züge mehr geben, die von Kopenhagen nach Malmö fahren: Am Flughafen Kastrup, also noch auf dänischem Boden, wird gegenwärtig mit Bauzäunen und Spanplatten eine improvisierte Grenzstation eingerichtet, an der alle Passagiere gezwungen sein werden, ihren jeweiligen Zug zu verlassen, um dann eine Kontrolle zu passieren und schließlich in einen zweiten Zug zu steigen, während die Flüchtlinge zur Erfassung nach Malmö gebracht werden.

Diese Prozedur wird nicht nur eine zeitraubende Qual für die knapp zwanzigtausend Menschen sein, die jeden Tag aus beruflichen Gründen zwischen der einen und der anderen Seite des Öresunds pendeln - noch, muss man wohl hinzufügen. Vielmehr stellen diese Kontrollen, sollten sie länger als ein paar Wochen Bestand haben, eines der kühnsten politischen Projekte innerhalb der Europäischen Union infrage. Denn Kopenhagen und Malmö hätten, mitsamt den kleineren Kommunen in der Region, in den kommenden Jahren zu ein- und derselben Großstadt werden sollen: zur einzigen Metropole der Welt, die in zwei Ländern gelegen hätte.

Wie Geschwister seien Dänemark und Schweden gewesen, meint die Politologin und Publizistin Susanna Birgersson, eine in Kopenhagen lebende Schwedin: Nachbarn mit zumindest eng verwandten Sprachen, geprägt durch einen strengen protestantischen Glauben, der in einen ebenso gründlichen Säkularismus übergegangen war, durch Jahrzehnte sozialdemokratischer Herrschaft, durch staatlich organisierte Wohlfahrt, durch Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, Toleranz und Offenheit - und eine gemeinsame Leidenschaft für Interieur und Design. Die Nachbarschaft ist um so enger, als ein Viertel aller Dänen im Großraum Kopenhagen lebt und die politischen Differenzen zwischen einer Hauptstadt, in der die "Kulturradikalen" leben , und einer Provinz, in der die Rechtspopulisten das Sagen haben, beträchtlich sind.

Doch um die Jahrtausendwende sei etwas passiert. "Dänemark rollte sich zusammen und wandte die Stacheln nach außen," sagt Susanna Birgersson. Die Rechtspopulisten von der "Dansk Folkeparti" erstarkten und begannen, die etablierten Parteien vor sich herzutreiben: "Strenge Asylgesetze und härtere Anforderungen an Einwanderer" forderten die dänischen Sozialdemokraten bei den nationalen Wahlen im Juni 2015.

Schweden verhielt sich völlig anders als Dänemark

Unterdessen wurde in Schweden die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen und das Einwanderungsrecht liberalisiert. Abgesehen von der Schweiz (dort allerdings aus anderen Gründen) nahm in dieser Zeit kein anderes europäisches Land mehr Migranten auf als Schweden - nicht in absoluten Zahlen, aber relativ, das heißt: an der eigenen Bevölkerungszahl gemessen. Zuletzt waren es vor allem Flüchtlinge aus Syrien und aus dem Irak.

Susanna Birgersson nennt einen historischen Grund, warum die Allianz zwischen den Schweden und Dänemark zerbrach: Beide Länder seien ehemalige Großreiche. Während sich aber die Geschichte Dänemarks seit dem verlorenen Krieg gegen Deutschland im Jahr 1864 als eine lange Kette von Niederlagen darstelle, gegen die sich das Volk mit einer Art Verschwörung nach innen habe behaupten wollen, sei Schweden zumindest in seinem Selbstbild von Sieg zu Sieg geeilt.

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Davon ist in einem Gesetzesvorschlag die Rede. Täglich überqueren 20 000 Fahrzeuge die Brücke, die das Land mit Dänemark verbindet.

Schweden wurde zu einer moralischen Macht

Denn was zähle die Niederlage im letzten Krieg, den man geführt habe, dem Krieg gegen Russland im Jahr 1809, wenn man sich danach als moralische Großmacht habe behaupten können: Schweden sei nun schon seit vielen Jahrzehnten das erste Land der Welt (und womöglich auch das einzige), in dem man glaube, internationale Konflikte ließen sich "in Zukunft durch Verhandlungen lösen". Weil Schweden aber glaube, als erstes Land in der Zukunft angekommen zu sein, gälten dort "Bedrohungen als unmodern".

An dieser Erklärung ist zumindest so viel Wahres, als Schweden eine globalisierte Nation gewesen war, lange bevor Angela Merkel Deutschland zu einer solchen erklärte. Gestützt auf die politische Neutralität, und mit meist guten Beziehungen zu den großen Mächten des Westens, hatte sich Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer - nicht immer nur imaginären - Macht der moralischen Weltordnung erhoben, zuständig für das Menschenrecht an allen Orten, wo es herausgefordert zu sein scheint.

Mit solchen Ansprüchen hatte Schweden bis Ende November Flüchtlinge empfangen, weshalb das Land neben Deutschland zum wichtigsten Ziel der Massenflucht geworden war. Das ist nun Vergangenheit, und der Wandel kam so abrupt, dass sogar die Politiker, die ihn durchsetzten - allen voran der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven und seine Koalitionspartnerin, die Umweltministerin Åsa Romson von den Grünen -, wirken, als könnten sie gar nicht begreifen, was sie selbst beschlossen hatten, und sich statt dessen von Europa verlassen fühlen.Würde Dänemark die Grenze zu Deutschland sorgfältig kontrollieren, klagen nun diese schwedischen Politiker, wäre es nicht notwendig, sich in einen von Polizei und Grenzschutz bewachten Nationalstaat zurückzuverwandeln.

Doch Dänemark kann gar kein Interesse daran haben, die Flüchtlinge an der Grenze zu Deutschland aufzuhalten, da diese doch in den meisten Fällen nach Schweden reisen wollen - und nach den immer noch geltenden Regeln der Europäischen Union, wenn von Dänemark kontrolliert, ihren Asylantrag dort stellen müssten. Und Dänemark hatte keinen Zweifel daran gelassen, ein sehr unangenehmes Fluchtziel, das "Ungarn des Nordens" werden zu wollen, wie Bo Lidegaard, Chefredakteur der dänischen Tageszeitung Politiken, empört feststellte.

Zuletzt hatte Inger Støjberg von der Liberalen Partei ("Venstre"), die für "Ausländer und Integration" verantwortliche Ministerin, den Vorschlag übernommen, Geld und Wertsachen im Gepäck von Flüchtlingen zu beschlagnahmen, um damit die von Asylsuchenden verursachten Kosten zu decken - zum Entsetzen der schwedischen Öffentlichkeit, in der sofort nach den Goldzähnen gefragt wurde.

Die Rechtspopulisten beider Länder wettern gegen die EU

Doch keiner ruft mehr "danskjävlar", nicht einmal in einer Karikatur. Stattdessen erinnert man sich daran, dass Pia Kjærsgaard von der Dänischen Volkspartei die Brücke schon 2002 hatte schließen wollen: um die Migranten in Schweden daran zu hindern, ihre Kriminalität nach Dänemark zu exportieren. Und nun bietet Schweden den dänischen Rechtspopulisten die Genugtuung, die Nachbarn, von denen sie jahrelang als "Rassisten" beschimpft wurden, selber "Rassisten" nennen zu dürfen. Immerhin vereinigen die Schwedendemokraten, die rechtspopulistische Partei auf der anderen Seite des Öresunds, nach jüngsten Umfragen deutlich mehr als zwanzig Prozent der Wählerschaft auf sich und sind zur zweitstärksten Partei herangewachsen.

So unterschiedlich die beiden Parteien sind - die Dansk Folkeparti ging aus der steuerfeindlichen Bewegung des Anwalts Mogens Glistrup hervor, die Schwedendemokraten aus faschistischen Traditionen - , beide halten das eigene Volk (was immer das sein mag) für auserwählt und Ausländer, besonders solche aus islamischen Ländern, grundsätzlich für unbefugt, am nationalen Reichtum teilzuhaben. Die skandinavische Variante dieses mittlerweile in allen europäischen Ländern verbreiteten Glaubens besteht darin, dass sie sich nicht nur gegen die Europäische Union und die von Deutschland vertretene Überzeugung wendet, Europa habe ein Bündnis globalisierter Nationen zu werden - sondern in der Konsequenz auch gegen die Allianz mit dem Nachbarland.

Die Allianz zwischen Schweden und Dänemark zerbricht an der Frage nach der Zukunft der EU

Erst vor ein paar Monaten hatten die Politiker der schwedischen Kommunen am Öresund dem Plan zugestimmt, dass mit dem Namen "Greater Copenhagen" Reklame für die gesamte Region gemacht werden soll, im Wissen, dass in der Konkurrenz mit Agglomerationen wie München, Paris, Mailand oder London die dänische Hauptstadt allein schlicht zu klein wäre- und dass ihr eigener Erfolg von der Nähe zu einer großen Stadt abhängt.

Vorausgegangen war eine über Jahrzehnte verfolgte Politik der gegenseitigen Verflechtung, die in der Brücke ihren sinnfälligsten Ausdruck fand: Die zwölf Universitäten der Region arbeiten in einem Verbund, in dessen Rahmen zum Beispiel mit Mitteln der Europäischen Union derzeit die größte Neutronen-Forschungsanlage der Welt gebaut wird - in Lund, also auf der schwedischen Seite. Etliche Weltkonzerne, vor allem in der pharmazeutischen Industrie, aber auch Ikea, haben sich auf beide Ufer der Meerenge verteilt, und dem Oberarzt Stig Helmer aus der Fernsehserie von vor gut zwanzig Jahren sind Tausende Schweden gefolgt, auch weil in Dänemark höhere Löhne bezahlt werden. Dieses Ineinander ist gefährdet, wenn der gemeinsame Flughafen auf der anderen Seite einer scharf bewachten Grenze liegt und eine Reise von Kopenhagen nach Malmö nicht mehr gut dreißig Minuten, sondern fast eineinhalb Stunden dauert.

Es geht um ein Gerücht namens "nationale Identität"

Können aber die Flüchtlinge tatsächlich der Grund für den Verfall der Beziehungen der beiden Länder sein? Etwas mehr als 250 000 muslimische Einwanderer gibt es in Dänemark, was ungefähr fünf Prozent der gesamten Bevölkerung entspricht. In diesem Jahr sind rund 150 000 Flüchtlinge nach Schweden gekommen, etwa jeweils das Doppelte des Durchschnitts in den vergangenen Jahren. Das ist viel, aber ökonomisch keine wirkliche Herausforderung für ein Land, das knapp zehn Millionen Einwohner zählt und für das kommende Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent rechnet - zweimal so viel, wie für Deutschland erwartet wird.

Oder anders gesagt: Erfolg oder Misserfolg der Nationen haben offenbar wenig mit dem Umgang mit Flüchtlingen zu tun. Es geht um etwas anderes: um eine Frage des Prinzips und um die Frage nach einem Gerücht namens "nationale Identität". Ihretwegen weigert man sich, sich einem "ausländischen" Interesse unterzuordnen, wozu man doch in anderen Fällen - Dänemark etwa beim Einsatz von Kampfflugzeugen im Irak - durchaus bereit ist.

Es geht um die Zukunft der Europäischen Union

Es gibt diese Fragen aber nur, weil sich dahinter eine andere Frage verbirgt: die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union. Sie war in den vergangenen Jahrzehnten ein Bündnis, dessen Mitglieder einen Teil ihrer nationalen Souveränität preisgaben, weil der gemeinsame Markt - die ungehinderte Beweglichkeit der Waren und der Menschen, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle - die Voraussetzung für den größeren Erfolg eines jeden zu werden versprach. Diese Hoffnung gibt es möglicherweise noch für Deutschland, für viele andere aber nicht mehr.

Schon innerhalb des Euro-Raums wird die Union gegenwärtig nicht zuletzt durch die Befürchtung zusammengehalten, der Schaden, der durch ein Auseinanderbrechen der Währung entstünde, könne insgesamt größer sein als der Nutzen, den Einzelne von einer Kündigung des Bündnisses haben könnten. Weder Dänemark noch Schweden aber müssen dieses Kalkül mitvollziehen, weil keines der beiden Länder den Euro einführte. Statt dessen treiben sie jetzt Souveränitäts- und Grenzkonflikte so weit, dass sie dafür sogar ökonomische Vorteile aus lange bestehenden bilateralen Beziehungen opfern.

Wenn es innerhalb der Europäischen Union an Solidarität mangele, erklärte der niederländische Politiker Jeroen Dijsselbloem Ende November, müssten sich "Länder wie die Niederlande, Deutschland, Schweden, Österreich und Belgien zu einer Art Mini-Schengen zusammenschließen". Der Satz war offenkundig als Drohung gegen die osteuropäischen Länder der Union gemeint. Dänemark wurde in diesem Satz gar nicht erwähnt, womöglich aus gutem Grund. Und ob Schweden überhaupt noch dabei sein wollte (oder dabei sein zu können glaubt), ist unterdessen zumindest zweifelhaft. Denn die beiden Nachbarn im Norden halten es ja nicht einmal mehr miteinander aus.

© SZ vom 28.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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