Europa im Umbruch:"Ich komme von weither"

Europa im Umbruch: Bei den Wettbewerben der Bänkelsänger und Politbarden der Gegend singt Jagjit Rai Mehta von seinem Leben als Einwanderer und Stallknecht.

Bei den Wettbewerben der Bänkelsänger und Politbarden der Gegend singt Jagjit Rai Mehta von seinem Leben als Einwanderer und Stallknecht.

(Foto: Giuseppe Morandi)

Im Norden Italiens retteten indische Einwanderer die Landwirtschaft vor der Überalterung: Besuch in einem Europa, das sich längst gewandelt hat.

Von Thomas Steinfeld

Wenn Jagjit Rai Mehta zu singen beginnt, stellt er sich in Positur. Kerzengerade, das Kinn erhoben, schaut er dann in eine Ferne, die außer ihm keiner sieht: "Vengo da lontano / Non vado via". Das Lied ist eine Art indischer Rap mit italienischem Text, hat also einen stabilen Rhythmus und kann auch ohne instrumentale Begleitung bestehen. "Ich komme von weither, ich gehe nicht fort." Singend erzählt Jagjit von seinen sieben Brüdern, die es über die halbe Welt verschlug, und vom Kuhstall, wo er seine Arbeitstage verbringt. Er schließt mit den Worten "tutto questo bella vita mia": "Das ist mein ganzes schönes Leben."

Jagjit singt gelegentlich in der Küche seines Freundes Giancarlo, eines ehemaligen Kleinbauern, den alle "Miciu" nennen, weil er ein Gesicht wie ein freundlicher Kater hat. Manchmal steht Jagjit auch auf der Bühne im Festsaal von Piadena, der nächsten Kleinstadt, irgendwo in der großen Ebene zwischen Mantua und Cremona gelegen. Dort findet jedes Jahr im März ein Festival der Arbeiter- und Bauerngesänge statt. Mitunter gewinnt Jagjit sogar Auszeichnungen für seine Lieder: Anfang Mai dieses Jahres zum Beispiel, als er beim nationalen Wettbewerb der Bänkelsänger ("cantastorie") in Motteggiana den Preis der Jury erhielt.

Nirgendwo in Europa, Großbritannien ausgenommen, leben so viele Inder wie in Italien. Doch während nach Großbritannien vor allem ausgebildete Arbeitskräfte auswandern, sind es die Ungelernten, die nach Italien gehen, vor allem in die Landwirtschaft - etwas über 120 000 waren es nach einer offiziellen Zählung im Jahr 2014, tatsächlich aber dürften es weit mehr sein. In der Bassa Padana, im Schwemmland des Po zwischen Pavia und Ferrara, sind vermutlich einige Zehntausend: Im Telefonbuch der Provinz Cremona füllen die Einträge zum Nachnamen "Singh" mehrere Spalten, und in Pessina Cremonese, einem Dorf nicht weit von Piadena, steht ein vor wenigen Jahren errichteter Sikh-Tempel, angeblich der größte in Europa. Dabei sind nicht nur Sikhs aus Indien nach Italien gekommen. Jagjit ist Hindu, andere sind Muslime und Christen.

Die einheimischen Melker wurden zu alt, als ihre Kinder längst fortgezogen waren

Auf den Straßen, auf den Plätzen der Region sind Inder indessen kaum zu sehen. Denn die Ebene ist weit, verstreut liegen die vielen Gehöfte, und die meisten Einwanderer aus dem Fernen Osten arbeiten nicht nur in der Landwirtschaft, sondern leben auch in der Nachbarschaft der Ställe. Ohne die Einwanderer aus Indien, erklären die Funktionäre des nationalen Syndikats der Landwirte, gäbe es keine Milchwirtschaft mehr in der Bassa Padana. Ohne die Milch aber entstünde weder der Grana Padano noch sein feinerer Verwandter, der Parmigiano Reggiano - und auch sonst nichts von dem, was in Deutschland unter dem Sammelnamen "Parmesan" verwendet wird. Gleiches gilt für die Schweine, die zu Prosciutto, Salami oder Mortadella verarbeitet werden. Denn die Einwanderer aus Indien ersetzten die "bergamini" der Bassa Padana, die einheimischen Melker und Stallknechte. Diese wurden zu alt für die Arbeit und starben, als ihre Kinder längst in die großen Städte oder ins Ausland gezogen waren. Und in einem Akt gleichsam osmotischen Austauschs über die Kontinente hinweg - denn einen Plan für die Zukunft der Arbeit in der lombardischen Viehwirtschaft hatte es nie gegeben - zogen seit den frühen Neunzigern immer mehr Inder in die Po-Ebene. Zuerst kamen die Männer, dann die Frauen, und längst wohnen, in nahezu jedem Weiler, indische Familien vor allem in den alten Häusern.

Ein Geruch von Dung zieht durch die Hauptstraße Piadenas. "Der Wind weht durch die Ställe", sagt Miciu, "es ist schlimmer, wenn die Jauche ausgefahren wird." Jagjit kommt in die Angolo Bar gegenüber von Kirche und Rathaus, das Gespräch wird durch den Lärm von Lastwagen unterbrochen, die Metallteile zu transportieren scheinen. Miciu gibt die Einführung: Die Gegend zwischen Mantua und Cremona ist eine gemischte Landschaft, halb bäurisch und halb industriell, wobei die Fabriken vielleicht nur eine Episode in der Geschichte der Bassa Padana darstellen. Sie entstanden, als die großen Güter verschwanden - die gewaltigen Landwirtschaften, von denen Bernardo Bertolucci in seinem Film "1900" (1976) erzählt, in dem der Kuhstall keineswegs zufällig den Zentralort des Geschehens bildet.

"Eine Legende", sagt Miciu, was nicht nur bedeutet, dass die Geschichte nie so war, wie der Film sie zeigt, sondern auch, dass es darüber immer etwas zu erzählen gibt. Dass es den mittelständischen Industriebetrieben dieser Gegend nicht besonders gut geht, lässt sich an den Schildern auf den rechteckigen Hallen an den Landstraßen erkennen, auf denen "Zu vermieten" oder "Zu verkaufen" steht, ebenso wie an den verfallenden Hotels und Diskotheken, denen vielleicht irgendwann ein Bildband für die bizarrsten und buntesten Ruinen gewidmet werden wird, solche mit geborstenen Neonschriften auf dem Dach.

Was wichtig war im Leben von Jagjit, passt in einen Plastikumschlag, die Bilder von seiner Hochzeit zum Beispiel oder die Schulhefte, in die er eintrug, wann sich der Circo Orfeo in den Jahren 1982 bis 1989 wo aufhielt, der berühmteste Wanderzirkus Italiens. Nichts steht in diesen Heften, nur die Namen der Städte und die Daten des Gastspiels: vom 12. November 1982 bis zum 16. November in Terni, dann drei Tage in Rieti, drei Tage in Spoleto. Im Zirkus hatte Jagjit in Italien zuerst Arbeit gefunden, als Handlanger und Getränkeverkäufer. Dorthin war er aus Rampur im Staat Uttar Pradesh gekommen, wo er im Jahr 1963 geboren worden war. Ein Vermittler hatte ihn nach Italien gebracht, weil das Geld für eine Auswanderung in die Vereinigten Staaten nicht ausreichte.

Den Zirkus verließ Jagjit, als er des Reisens müde wurde und heiraten wollte. Er wurde Tellerwäscher, dann stieg er zum Koch eines Restaurants in Modena auf. In der Viehwirtschaft landete er, nachdem er als Hilfskraft bei einem Veterinär gearbeitet hatte, und oft war es ein Verwandter, der den Übergang von einer Arbeitsstelle zur anderen ermöglichte. Seit siebzehn Jahren arbeitet er nun auf einem Hof bei Piadena, in dem, wie auf fast allen Höfen dieser Gegend, die Holsteiner Kühe in einer Art gigantischem Schuppen stehen, der zwar ein Dach hat, aber keine Wände. "Du musst den Kälbern die Milch geben, wie man kleinen Kindern Milch gibt. Wenn die Milch kalt ist, bekommen sie Durchfall." Jagjit ist stolz darauf, dass ihm nur selten ein Kalb stirbt. Er isst zwar Fleisch, aber nicht oft und nicht gerne, viele der indischen Einwanderer sind Vegetarier. "Ich habe ein freundliches Verhältnis zu den Tieren", sagt er, und zugleich nimmt er hin, dass die meisten Kälber geschlachtet werden und eine Kuh nur so lange lebt, wie sie genug Milch gibt - das sind drei bis fünf Jahre.

Viele der "cascine", der Gehöfte in der Bassa Padana, sind alte, gewaltige Anlagen, mit Scheunen, Schuppen und Ställen, mit Wohnhäusern für die Arbeiter, einer Villa für den Verwalter und einem weiten Platz in der Mitte, an dem ein mehr oder minder prächtiges Herrenhaus steht. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft brachen die meisten dieser Gehöfte auseinander. Die Ställe und ein Teil der Scheunen sind nach wie vor in Betrieb, von den Wohnhäusern sind noch ein paar benutzbar, der Rest der Anlagen befindet sich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. So ist es auch bei Jagjit: Der Hof gehört einem der großen italienischen Konzerne, die Wurstwaren und Molkereiprodukte herstellen. Sie sind die eigentlichen Erben der Großgrundbesitzer, aber von den vielerlei Erzeugnissen, die eine "cascina" hervorbrachte, ist nur ein Produkt geblieben: die Milch.

Knapp fünfhundert Kühe, hat Jagjit zu betreuen: melken, füttern, streuen, misten, die Kälber versorgen, vor allem aber: die Maschinen bedienen und pflegen, denen das Leben der Tiere unterworfen ist. Das Letzte, was er am Ende des Tages von seiner Arbeit sieht, ist der Lastwagen, der den Hof verlässt und zur Käserei fährt. Etwa fünfzehn Liter Milch braucht man für ein Kilogramm Grana Padano. Ein ganzer Käse, "Rad" genannt, wiegt ungefähr 35 Kilogramm. Produziert werden pro Jahr knapp fünf Millionen "Räder", von denen nicht einmal ein Fünftel in den Export geht. Die Milch ist eine Großindustrie, nur dass ihre Herstellung sich über Zehntausende solcher Gehöfte verteilt.

Die Arbeit des "bergamino", des Melkers und Stallknechts, muss in zwei Schichten verrichtet werden: Die eine währt etwa von Mitternacht bis sechs Uhr morgens, die zweite von drei Uhr nachmittags bis gegen achtzehn Uhr, und dieser Rhythmus wiederholt sich jeden Tag, jahrein, jahraus. Die Landarbeiter aus Indien werden von den Gutsverwaltern geschätzt, weil sie fleißig und unauffällig sind. "Unsere Jugend will nicht mehr im Stall arbeiten", sagt der Bürgermeister von Pessina Cremonese. Aber warum die Inder - und nicht die Nordafrikaner oder die Rumänen? Weil sie aus der Landwirtschaft kommen, aus geografisch und klimatisch ähnlichen Verhältnissen, lautet eine häufige Antwort. Tatsächlich gibt es eine Art Arbeitsteilung unter den Einwanderern in der Bassa Padana: die Inder in der Landwirtschaft, die Nordafrikaner in der Metall verarbeitenden Industrie, die Rumänen und Moldawier im Handwerk und in den haushaltsnahen Arbeitsbereichen.

An der Einfahrt von Monticelli Ripa d'Oglio hängt unter dem Ortsschild ein weiteres Schild: "Comune libero da pregiudizi razziali", "diese Gemeinde ist frei von rassischen Vorurteilen". Mehrere Dörfer in dieser Gegend haben solche Schilder. In der Kleinstadt Pontoglio, achtzig Kilometer nordwestlich am Rand der Dolomiten gelegen, klingt die entsprechende Aufschrift anders. "Diese Gegend ist von der abendländischen Kultur und von christlichen Traditionen geprägt", heißt es dort am Ortseingang, "wer nicht beabsichtigt, die örtliche Kultur und die Tradition zu achten, wird gebeten, sich woandershin zu begeben." Die großen Gehöfte gehören nicht mehr zur Umgebung von Pontoglio. Die Arbeit der Einwanderer aus Indien mag geschätzt werden, den Rassismus gibt es dennoch. Er gilt nicht nur der Herkunft der Landarbeiter, sondern auch ihrem Stand: Weit unten in der Hierarchie der ländlichen Berufe befindet sich der "bergamino". Er ist eine Figur des ländlichen Proletariats.

Bald werden sie keine Kühe mehr versorgen, sondern akademische Berufe haben

Kurz nach seiner Ankunft in Piadena lernte Jagjit den Mann mit dem Gesicht eines Katers kennen, und nicht nur ihn, sondern auch Giuseppe Morandi, den Sekretär der Gemeinde - der keineswegs nur nebenher ein ausgezeichneter Fotograf ist. Diese beiden sind seit Jahrzehnten tragende Gestalten einer "Lega di Cultura", eines Kulturvereins, der sich vor allem der Geschichte der Landarbeiter in der Bassa Padana widmet - bevor Bernardo Bertolucci den Film "1900" drehte, ließ er sich von der "Lega" unterrichten, wie in dieser Gegend vor hundert Jahren Landwirtschaft betrieben wurde. Über Miciu und "Giusep" fand Jagjit auch zum Singen: Denn zur "Lega" gehört die Pflege der Lieder, die von den Landarbeitern gesungen wurden. Und wenn Jagjit auch keine sozialistischen Kampfgesänge schreibt (die einen erheblichen Teil dieser Tradition bilden), so verfügt er doch über andere Mittel, auf die Umstände seines Lebens aufmerksam zu machen. "Schnee im Mai", heißt es in einem Lied, das dem Frühling gewidmet ist, "es fallen die Blüten / sie machen kein Geräusch, / sie sehen wie Käse aus."

Jagjit spart. Seine Frau leitet die Küche in einem Altersheim. Seine Tochter studiert Medizin, sein Sohn lässt sich zum Elektriker ausbilden. Italienische Staatsangehörige sind sie schon lange. Vor ein paar Jahren kaufte Jagjit ein kleines Haus in der Stadt. Jetzt leben vier indische Familien darin. Wenn es für ihn und für andere indische Einwanderer in der Bassa Padana einen sozialen Aufstieg gibt, führt dieser in den seltensten Fällen in die Käserei, in die Eigenheiten der regionalen Lebensmittel, sondern in den Immobilienbesitz und ins Unternehmertum. Einige Höfe in der Umgebung von Piadena gehören schon eingewanderten Indern. In ein paar Jahren werden viele der Immigranten nicht mehr Kühe und Schweine versorgen, sondern andere, akademische Berufe haben. Neue Einwanderer werden dann die Viehwirtschaft retten müssen.

Im Kofferraum seines kleinen alten Fiats liegt Jagjits Turban. Er besteht aus goldfarben bestickter Seide. Er holt ihn gern heraus und setzt ihn auf. Er zieht auch gern die kleine blaue Seidenjacke an, die er auf manchen Bildern trägt, die Giuseppe Morandi von ihm aufnahm. Selbstverständlich gefällt er sich in dieser Aufmachung. Aber sie ist auch ein Symbol: "Vengo da lontano / Non vado via" - "ich komme von weither, ich gehe nicht fort".

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