Süddeutsche Zeitung

Tanztheater aus Asien: Eun-Me Ahn:Freiheitshungrig

Die Koreanerin Eun-Me Ahn ist eine der wichtigsten asiatischen Choreografinnen. Eine fröhliche Begegnung in Potsdam, wo ihr Stück "Dragons" für Aufsehen sorgt.

Von Dorion Weickmann

Die Mutter ist eine feine Frau, sehr feminin, im Westen würde man sagen: ladylike. Sie liebt hübsche Kleider, lange Haare, beherrscht ein gewisses Augenklimpern. Umso weniger kann sie verstehen, warum die Tochter eine raspelkurze Frisur trägt. Der Vater wiederum begreift nicht, was die Halbwüchsige treibt. Er sieht nur irgendwas mit Bewegung, Kostüm, seltsamen Gebärden. "Pssst", sagt das Mädchen, "das musst du nicht kapieren, setz dich einfach hin und schau zu."

Eun-Me Ahns Eltern hatten keine Ahnung von Kunst und wenig Sinn für weibliche Emanzipation. Umso erstaunlicher, dass sie die freiheitshungrige Tochter gewähren ließen. Jahrzehnte später hat sie sich revanchiert: 2011 holte die Choreografin ihre Mutter auf die Bühne und besetzte sie als eine der zehn "Dancing Grandmothers", mit denen sie auf Tournee ging. Die alte Dame brach nicht nur aus dem Hausfrauendasein aus, sie blühte auf, bezirzte das Publikum und erwies sich als eminent begabte Performerin. "Ein Naturtalent, denn Tanzunterricht hat sie nie gehabt", sagt Eun-Me Ahn lachend und wiegt sich anmutig auf der Bank eines Potsdamer Hotels.

Das Gespräch mit der 59-Jährigen gleicht von der ersten Minute an einer heiteren Performance: Kopf zwischen die Hände, Ellbogen auf den Tisch, Körper zusammenknicken und auffalten, das Ganze begleitet von Schnurr-, Zisch- und Brummlauten - jedes Wort, jeder Satz wird mimisch und gestisch orchestriert. Diese Frau, so viel ist klar, ist nicht bloß Tänzerin, sondern ausgestattet mit einer Mission: Die Menschen sollen eintauchen in ihre Bühnenfantasien, in die sentimentalen und schillernden Revuen, die sie seit mehr als zwanzig Jahren entwirft. "Tanz", sagt Eun-Me Ahn und hüpft dabei auf und nieder wie ein Gummiball, "Tanz ist eine Universalsprache, die niemand lernen muss - es reicht, einfach hineinzuspringen."

Das ist natürlich maßlos untertrieben, zumindest was die jungen Profitänzer betrifft, die bei den Potsdamer Tanztagen mit der Deutschlandpremiere von Eun-Me Ahns "Dragons" gastieren. Sowohl die sieben leibhaftig anwesenden Performer als auch die Hologramme weiterer sechs Tänzer sprühen vor Energie. Immer wieder knallen sie sich auf den Boden, schlagen Salti und fegen wie Derwische über die Bühne, deren bewegliche Wände aus silberglänzenden Flexrohren bestehen.

Die titelgebenden Drachen haben ein rundum positives Image

Visuelle Effekte verfremden das Setting in Himmel, Hölle oder ein Wasserbassin, Fontänen, Strudel oder üppige Vegetation ploppen dank Projektion am Bühnenportal auf, wie Weihnachtskugeln glitzern die Kostüme. Bis auf eine Ausnahme sind die Tänzer allesamt nach 2000 geboren, also Kinder des 21. Jahrhunderts - und so gecastet, dass klar wird: Diese Generation ermächtigt sich selbst, beansprucht Raum und wird ihre Interessen verteidigen. Sie ist furchtlos und feurig und eifert darin den titelgebenden Drachen nach, die hier ein rundum positives Image verpasst bekommen - was die Zuschauer im Potsdamer Hans Otto Theater stürmisch feiern.

Das Stück, das im Frühjahr 2022 auch in St. Pölten, Hamburg und Ludwigshafen Station machen wird, hat Eun-Me Ahn zu großen Teilen während der Pandemie erarbeitet, via Zoom. Dabei kam ihr zugute, dass die jungen Tänzer allesamt im Internet zuhause sind, während sie selbst sich an das Abenteuer kontaktloser Proben gewöhnen musste. In Seoul gab es zwar keine Theater-Lockdowns während der Pandemie, aber die Kollateralschäden im Alltag sind auch dort gewaltig: "Kleine Geschäfte gehen reihenweise ein, nur wer online verkauft, kann überleben." Es tut ihr weh, denn das Land ihrer Geburt, das sie keineswegs immer geliebt hat, ist ihr inzwischen doch ans Herz gewachsen - zumindest für die Hälfte des Jahres, in der sie nicht auf Tournee ist.

Als junge Frau wollte Eun-Me Ahn nur eins: "Raus aus Korea! Es war ein Gefängnis, alles eng und repressiv - Namen von Choreografen wie Cunningham oder Alvin Ailey haben wir uns nur hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert." Also nutzte sie die erstbeste Gelegenheit, sich nach New York abzusetzen und dort bei den Koryphäen des zeitgenössischen Tanzes zu studieren. Sie entwickelte eine Bewegungssprache, die koreanische Tradition und amerikanische Coolness fusioniert. Ein köstliches Gemisch, das sie dem Publikum mit Performern aller Art verabreicht: Großmütter, Menschen mit Behinderung und Teenies haben sich schon von Eun-Me Ahns Tanzlust anstecken lassen und tourten mit deren Inszenierungen über Europas Bühnen. Als Eun-Me Ahn die Leitung einer zeitgenössischen Compagnie angetragen wurde, zog sie zurück nach Korea: "Studios, Tänzer, Auftrittsmöglichkeiten - und das alles wird bezahlt? Das klang einfach paradiesisch für mich."

Mit Pina Bausch, der verstorbenen Doyenne des Wuppertaler Tanztheaters, verband sie eine enge Freundschaft: "Wir hatten uns unglaublich viel zu erzählen, wobei" - Eun-Me Ahn lehnt sich weit über den Tisch - "Pina immer so leise sprach, dass ich ihr ganz nah kommen musste. Während ich ja eher ein lautes Organ habe." In der Tat hört man die kleine Frau schon lange, bevor sie in Sicht kommt. Und fragt sich irgendwann im Lauf des Gesprächs, warum sich das Wuppertaler Tanztheater nach Bauschs Ableben keine Zusammenarbeit mit der fröhlichen Eun-Me Ahn verordnet hat. Das hätte die Trauerzeit womöglich entscheidend verkürzt.

Gegenüber von Eun-Me Ahns Hotel dröhnt unüberhörbar ein Rummelplatz, aber sie denkt gar nicht daran, sich darüber zu beschweren. "Direkt gegenüber vergnügen sich die Leute - ideales Ambiente für mich." Diese Frau ist eine One-Woman-Show, aber ohne jede Prätention. Und je nach Blickwinkel ein echtes Geschenk - oder eine maximale Herausforderung - für verkopfte Mitteleuropäer.

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