Es dürfte schwer sein, aus dem Adorno-Seminar unbeschädigt ins Leben hinauszugehen, aber Michael Rutschky ist es gelungen - ohne dabei zu verfrankfurtern. Wie es sich für einen intelligenten jungen Mann in den frühen Sechzigern gehörte, studierte er Soziologie und Literaturwissenschaft, verfiel aber nie dem Eifern der K-Grüppler, sondern ging in die Bildungsforschung und warb sein Leben lang für eine staatstragende SPD, die 1969 mit Willy Brandt als Bundeskanzler so jugendlich und zukunftsfroh wirkte.
Für eine akademische wie für eine Laufbahn in der Politik ging Rutschky das Entscheidende ab: Er zeigte keinerlei Neigung zum System. Er probierte vieles aus, aber er legte sich nicht fest, wozu auch? Die Welt war viel zu ungeordnet, um sie anders als momentweise zu erleben, in Epiphanien des Gewöhnlichen.
An Welt- und Totalideen hat es ihm dennoch nie gefehlt: In einer einzigen Nacht haute er als Student ein dreißigseitiges Exposé für eine Dissertation über Prousts "Recherche" zusammen, die natürlich nie geschrieben wurde. Er wurde dann mit einer Arbeit über die "Lektüre der Seele" promoviert, führte darin Psychoanalyse und Surrealismus näher zusammen, als es sich selbst André Breton getraut hätte, und vergaß dabei nicht den "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz.
Die Punks in Kreuzberg waren interessanter als irgendwelche traurigen Tropen
In einem "Essay über die siebziger Jahre" erkundete er das postrevolutionäre Trauma seiner Generation, die Abkehr von der Politik, den Versuch, sich der Praxis auszusetzen. Rutschky fand dafür den genialen Begriff "Erfahrungshunger" (den auch Goethe in seiner "Kampagne in Frankreich" verwendet). Dazu gehörte neben der Rettung der Literatur auch, gelernt ist gelernt, die "Allegorese des Kinos", die Wunder- und Lebenszeichenhaftigkeit von Filmen wie "Taxi Driver" und "Im Lauf der Zeit". Die Siebzigerjahre hat es möglicherweise nie gegeben, aber dieses Buch, sicherlich Rutschkys bestes, wiegt das ganze Jahrzehnt auf.
Rutschky war ein nimmermüder Leser. Er wusste, dass in den Romanen von Barbara Pym oder John Updike dann doch mehr Weisheit steckte als in den großgedachten Weltentwürfen Peter Sloterdijks. Siegfried Kracauers Blick für die Warenwelt wurde diesem ausdauernden Flaneur zum Vorbild. Dazu entwickelte er eine raunende Ironie, die sich nicht mit dem bloßen Augenschein zufriedengab, sondern es grundsätzlich nicht wusste.
Rutschky war - beste Frankfurter Schule - gelernter Gesellschaftskritiker, aber er lernte dazu, wusste, dass Kritik nicht alles und manchmal auch nicht besser als AfD ist. Er las den Ethnopsychoanalytiker Paul Parin und formte die Lehre um zu einer "Ethnographie des Inlands". Die Punks in Kreuzberg, die biedermeiernde Retro-Gemütlichkeit und der inszenierte Berghain-Exzess waren für ihn als Forschungsgegenstand interessanter als irgendwelche traurigen Tropen.
Wenn der Bäcker um die Ecke ein Foto des Wimbledonsiegers Boris Becker aufhängte, las er daraus ein Totem: der Kreuzberger Türke, dem da noch längst keine doppelte Staatsbürgerschaft winkte, betete demonstrativ die Lokalgottheit an.
Heimliches Thema war der nie geschriebene Roman, und doch fügt sich aus zwei Dutzend Büchern und hundert Essays ein Lebens- und Bildungsroman, selbstverständlich mit dem Autor als Mittelpunkt. Anders als die Professoren seiner Generation konnte er sich nicht über akademische Wirkungslosigkeit beklagen.
Ohne je Herausgeber zu sein, war Rutschky über Jahrzehnte der Spiritus Corrector des Merkur. Lange betreute er eine von Walter Keller herausgegebene Zeitschrift, die natürlich Der Alltag hieß und "Sensationen des Gewöhnlichen" anbot. Zusammen mit seiner vor acht Jahren verstorbenen Frau Katharina wurde Rutschky ein vollkommen selbstloser Förderer der nächsten Generation. Seine Schüler, von denen Rainald Goetz, Stefan Wackwitz und Kurt Scheel nur die bekanntesten sind, hat er über alle Redaktionen verstreuen können. So lebt er fort.
In der Nacht zum Sonntag ist der ethnografische Denker Michael Rutschky im Alter von 74 Jahren in Berlin gestorben.