Literatur:Absurd und tragikomisch

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Esther Dischereit hat durch ihr Werk unerschrocken die literarische Landschaft verändert. (Foto: Sandro Most)

Esther Dischereit erzählt in „Ein Haufen Dollarscheine“ eine jüdische Familiengeschichte zwischen 1942 und heute. Eine Herausforderung.

Von Insa Wilke

Merkwürdig, dass die Schriftstellerin Esther Dischereit nicht viel bekannter ist, nicht alle Preise dieser Republik bekommen hat. Sie hat mit Büchern wie „Als mir mein Golem öffnete“ und „Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte“ an einem souveränen Ausdruck für die Erfahrung der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden gearbeitet. Mit ihren politischen Essays, mit ihren Hörstücken, mit ihrer Solidarität für die heute von deutsch-nationalem Terror Betroffenen, die Bücher wie „Blumen für Otello“ und „Hab keine Angst, erzähl alles!“ zeigen, hat Esther Dischereit unerschrocken die literarische Landschaft verändert.

Ihr neuer Roman erscheint aber nicht in einem der großen Verlagshäuser, sondern in Benno Käsmayrs verdienstvollem Augsburger Maro-Verlag, dessen Motto heißt: „Unabhängig. Unerwartet. Unbeirrt.“ Vor allem unbeirrt muss man wohl sein, um „Ein Haufen Dollarscheine“ zu veröffentlichen. So konsequent wie Esther Dischereit formal umsetzt, wovon sie erzählt, was sie recherchiert hat und worüber sie nachdenkt, wird dieser Roman eher kein Kassenschlager. Denn er beruhigt nicht die Unsicherheit, die in der Politik der Antisemitismus-Bekämpfung gegenwärtig zu bemerken ist, sondern arbeitet eher damit.

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Ihren Roman lässt Dischereit in kurzen Abschnitten abwechselnd von einem Neffen und dessen Tante erzählen, die ein überaus trockener Humor auszeichnet. Die Zeit und die Orte der Handlung wechseln, von 1942 bis in die Gegenwart, von Heppenheim bis Chicago und Managua. Man braucht eine Weile, um sich historisch, räumlich und auch in den Verwandtschaftsverhältnissen zu orientieren. Denn im Text werden die Folgen des Überlebens und die Echos der Verbrechen literarisch übersetzt: „Meine Mutter hatte meine Schwester acht Jahre durch die Nürnberger Gesetze geschleppt“, stellt die Tante fest, die erst nach dem Krieg geboren wurde und einen anderen Vater hat als ihre ältere Schwester. Die Mutter habe ihre Halbschwester weitere „drei Jahre durch die namenlose Zeit“, gebracht, „als die Leute Stück für Stück ihr Dasein verloren: als Gewerbetreibende, als Radiohörerinnen, als jemand, der einen silbernen Kaffeelöffel abschleckt oder auf einer Parkbank gesessen oder einen Kanarienvogel besessen haben könnte; alles zusammen vier Jahre durch die Endlösung“.

„Ein Haufen Dollarscheine“ erzählt von den Konsequenzen dieser Jahre für die Lebensläufe und Beziehungen der Überlebenden. Wesentlich geht es aber auch um die Kontinuität verbrecherischen Handelns in Form von Erbschleicherei durch nicht jüdische Verwandte und bundesrepublikanische Verhinderung der sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“. Oder auch in Form von Banken, die sich weigern, alte Depots rauszurücken. Alles Vorgänge, die formal rechtens sind, aber nicht so ganz gut zusammenpassen mit dem Slogan, der jetzt so vielen so schnell über die Lippen geht: „Nie wieder ist jetzt“.

Diese Heuchelei einer selbstgewiss die Vergangenheit „bewältigenden“ Gesellschaft inszeniert Esther Dischereit am Anfang und Ende des Romans angemessen maliziös durch eine Diskursfetzen sampelnde durchschnittsdeutsche Stimme, deren schroffer Ton die Aggression unter den soften Floskeln verrät. Dischereit setzt dieser Kollektivstimme einen Satz entgegen, der ihre Ästhetik auf den Punkt bringt: „Es will kein Bild entstehen.“

Dischereit erzählt von Kolonialismus, Antisemitismus, Rassismus und jüdischer Hierarchie nach 1945

Es soll wohl auch kein Bild entstehen, denn die Schwester der Erzählerin, die eine Zeit vor dem Holocaust kennt, musste ihr Leben aus Splittern wieder zusammensetzen. Mal passen sie zusammenpassen und mal nicht, mal legen sie einen Zusammenhang nahe und mal nicht, aber immer bezeugen sie, was geschehen und nicht vorbei ist. Irgendwann, vielleicht nach hundert Seiten, begreift man diese Form des Erzählens.

Tante und Neffe sind beide „Children“ jener „Survivors“. Darauf reagieren sie sehr unterschiedlich: Die Tante mit „Politics ohne Ende“, wie eine Berliner Nachbarin über sie sagt: „Sie ist immer woanders. Ich meine, bei der ratterts im Kopf.“ Der andere, politisch eher Naive, mit dem Versuch, die jüdische Identität übererfüllend wiederzuentdecken. Durch diese beiden Figuren kann Esther Dischereit politisch sehr viel analytischer von zwei heißen Eisen erzählen, als es beispielsweise David Hadda in der erfolgreichen Serie „Die Zweiflers“ getan hat: vom Verstrickungskomplex Kolonialismus-Antisemitismus-Rassismus und von jüdischer Hierarchie nach 1945, die ihre Hauptfigur „unverständliche innere Community-Umstände“ nennt, „die außerhalb keiner versteht“.

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Komplex eins wird vom Leben angeschoben. Die Schwester, die als Kind versteckt überlebt hat, lernt in Italien einen schwarzen US-amerikanischen Kunststudenten kennen, der Footballspieler und Bürgerrechtsaktivist war, dessen Mutter „vom Stamm der Choctaw“ stammt und der für den palästinensischen Befreiungskampf gesungen hat. Sein Sohn, der zweite Erzähler des Romans, darf seinen jüdischen Urgroßvater nicht besuchen, der es mit seiner Frau Rosa in die USA geschafft hat, wo diese sich aus Hunger-Angst „zu Tode aß“. Denn der lebt in einem „weißen“ Viertel. Dies und die patriotische Haltung des alten Mannes im Vietnamkrieg sorgen wiederum dafür, dass die Tante den Kontakt mit diesem Großvater abbricht, der doch ihr „Ein und Alles“ war als Kind.

Klingt verwickelt, ist es auch und dabei absurd tragikomisch. Die Komik wiederum liegt im Detail. Zum Beispiel diesem: An Thanksgiving kommt die Familie in Chicago beim weißen Schwiegervater einer weiteren Nichte zusammen, die sich für eine bürgerliche Existenz entschieden hat. Mit dem schwarzen Vater der Nichte, jenem Mann, der seine Frau als Kunststudent in Perugia kennengelernt hat, spricht der Gastgeber um die Wette das Tischgebet. Da bemerkt die Erzählerin „beim Blick auf den prächtigen Truthahn“ die dünne Plastikdecke, „die unter der Leinentischdecke verborgen liegt, als müsse das dunkle Holz eine Windel tragen“. Ihr Spott trifft die Berührungsangst, die sich gegen reale Materie richtet. Und dieses Motiv verweist gleich weiter nach Deutschland und zu dem Komplex von „Jüdischkeit“, den Dischereit an der Figur des Neffen erzählt.

Dischereit bringt grandios intelligent erzählend die „Normalität“ ins Schwanken

Der Neffe möchte mehr von seiner jüdischen Identität verstehen und praktizieren. Kommt er seiner Mutter damit, die sich nach dem Krieg taufen ließ, rutscht sie mit der Stimme in die hohen Tonlagen der Fünfjährigen und flüchtet sich ins Bett und in Krankheiten. Das hat nicht nur mit der Erfahrung zu tun, die eigene Identität verstecken zu müssen, sondern auch mit der Scham, zur Todgeweihten erklärt worden zu sein und dies als „Closet-Jew“ zu offenbaren, wenn sich zeigt: von Kiddusch und Kaschrut hat sie, die in dunklen Kammern aufwuchs, keine Ahnung.

Das zumindest ahnt die Tante, die wiederum ihre eigenen Erfahrungen mit der „Jüdischkeit“ gemacht hat. Zum Beispiel mit dem „Hering-in-Gelee-Graben“, der sie von Mitgliedern der jüdischen Gemeinden trennt, die sich anders als ihre Familie streng an die Speisegesetze halten, während ihre eigene Mutter mit einem liberalen Judentum aufgewachsen war. Zum anderen beschreibt Dischereit da den Umstand, dass die tonangebenden Juden in den Gemeinden, die aus Israel oder Russland nach Deutschland gekommen seien, so wenig wissen wollten von den Überlebenden, denen es nach der Erfahrung der Lager und Verstecke kaum möglich gewesen sei, ihren Kindern Glaubensregeln und Hebräischkenntnisse nahezubringen. „Der Zionismus“, lässt Dischereit ihre Figur sagen, „eroberte das Interpretationsmonopol alles Jüdischen“ und darüber hinaus die „deutsch-jüdischen Tischgemeinschaften“. Sie geht aber noch weiter und lässt ihre Figur davon erzählen, wie sie beim Versuch, ihre Mutter auf einen jüdischen Friedhof umzubetten, von der Gemeinde aufgefordert wird, Abstammungsnachweise beizubringen. Die Erzählerin kommentiert: „Ich blieb uneinsichtig, was das Interesse an jüdischer Reinrassigkeit betrifft.“

Esther Dischereit: Ein Haufen Dollarscheine. Roman. Maro-Verlag, Augsburg 2024. 312 Seiten, 24 Euro. (Foto: Verlag)

Man darf davon ausgehen, dass diese Aspekte des Romans, der mit Aktenzeichen gespickt ist, nicht reine Erfindung sind. Was ihn aber so spektakulär macht, ist Dischereits Umgang mit den Zeichen und Zusammenhängen. Erzählend bringt sie die „Normalität“ ins Schwanken. Eine Normalität, die ihre Figur einüben muss und hoffentlich nie lernt, denn es ist auch die Normalität, die Menschen wie ihre Schwester und Mutter auch nach dem Ende des Nationalsozialismus noch als „Illegale“ in den Akten führte. Es wird auch hier kein Zufall sein, dass man beim Lesen an heutige „Illegale“ denkt, die wieder ohne Anführungszeichen so bezeichnet werden. Aber das ist eine andere Geschichte. Ist es das wirklich, scheint der Roman „Ein Haufen Dollarscheine“ zu fragen. Auf eine andere, programmatische Frage, nämlich, ob es der Tante überhaupt erlaubt sei, die Geschichte der Schwester so zu erzählen, als sei sie dabei gewesen, heißt es einmal: „Es ist ja auch nicht verwerflich im Leben eines anderen Menschen Platz zu nehmen.“ Seltsam, wie diese suggestiv zweifelhafte Feststellung auf heutige Diskurse um Fürsprache und Mitsprache gemünzt zu sein scheint.

Die durchschnittsdeutsche Stimme am Anfang des Romans beschwert sich übrigens über die unübersichtlichen Zusammenhänge der Geschichte und ihrer Figuren. Esther Dischereit hat an die Stelle von Erklärungen nun mit diesem grandios intelligenten Roman die Darstellung der Verhältnisse selbst gesetzt: Fragmente einer Wirklichkeit, die so lose, viel- und nichtssagend zusammenhängen wie ein Haufen Dollarscheine, dessen Existenz eine Geschichte bezeugt, die nicht mal mehr zum Himmel schreit.

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