Kunst in Essen:Plötzlich Idylle

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Aus Grau wird Grün: der Kreisverkehr am Berliner Platz in Essen. (Foto: Katja Illner)

Der gelungene Ausstellungsparcours "Folkwang und die Stadt" bringt Kunst an die unwahrscheinlichsten Orte.

Von Alexander Menden

Ein Idyll ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man mit der Essener Innenstadt verbindet. Die Insel inmitten des verkehrsumspülten Berliner Platzes, umringt von Multiplex-Kino, Einkaufszentrum und den Verlagsgebäuden der Funke-Mediengruppe, ist normalerweise nicht einmal zugänglich. Doch zumindest übergangsweise hat sich der Kreisel in eine Art Community-Garten verwandelt, mit anderwärts vor der Rodung geretteten Bäumchen, Hochbeeten und dem vollständig wiederverwendbaren "Circular Building" eines Essener Start-up-Unternehmens. Zu verdanken ist dieses Pop-up-Idyll einer der bedeutendsten Essener Kulturinstitutionen, dem Museum Folkwang, und deren Jubiläumsjahr.

100 Jahre ist es her, dass die Sammlung des Fabrikantenerben, Kunstmäzens und Volksbildungsvisionärs Karl Ernst Osthaus aus Hagen an ihren heutigen Standort gelangte. Osthaus war 1921 gestorben, seine Erben verkauften die Sammlung samt dem "Folkwang"-Namen an den Essener Museumsverein. Osthaus hatte stets das reformerische Bestreben gehabt, die Kunst aus dem Elfenbeinturm heraus- und in die Mitte der Bevölkerung hineinzuholen. Diesem Gedanken folgend hatte Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter für das Jubiläumsjahr 2022 schon lange den Plan für eine größere Durchdringung des Stadtraums, eine Vereinigung von Kunst- und Gesellschaftsprojekten, gehegt.

Das Ergebnis, gleichsam als Verbindung zwischen den großen, feierlichen Impressionisten- und Expressionisten-Ausstellungen, ist "Folkwang und die Stadt": ein Parcours mit 18 Stationen in der Essener City Nord, der in Zusammenarbeit mit 13 Künstlerinnen und Künstlern und lokalen Projekten und Initiativen erarbeitet wurde, mitkoordiniert von Markus Ambach, der in diesem Jahr auch bei der Kasseler Documenta eingeladen ist. Dabei ist, wie es dem gegenwärtigen Trend entspricht, der Übergang zwischen Kunst- und Gesellschaftsprojekten fließend.

Ein mit Schafswolle überzogener Stall weist auf den Verfall des Wertes von Wolle hin

Da sind zum Beispiel die Interventionen des britischen Künstlers Jeremy Deller, dem immer sehr an der lokalen Bindung seiner Arbeiten gelegen ist: Auf dem Newsticker am Berliner Platz mischen sich unter die Lokalnachrichten Meldungen über die Demilitarisierung Deutschlands - Nachrichten von vor 100 Jahren, die zum Teil so gegenwärtig wirken, dass ihr Alter kaum auffällt. Weiter östlich, in der sogenannten "Grünen Mitte", grasen Schafe auf einer Weide - umgeben von einem Neubaugebiet, angrenzend an einen Spielplatz. Es ist ein Projekt der Künstlerin Folke Köbberling: Der mit Schafswolle überzogene Stall ist nicht nur ein aus der Zeit gefallener Fremdkörper, er soll auch auf den Verfall des Wertes dieser natürlichen Ressource hinweisen: Zwölf Cent pro Kilogramm bekommt man gerade noch für Rohwolle. Dass 20 Anwohner dafür gewonnen wurden, sich mit um die Schafe zu kümmern, lässt die Idee, ein wirkliches Gemeinschaftsprojekt zu erarbeiten, glaubwürdiger erscheinen, als es eine in sich abgeschlossene Installation wäre.

Die Künstlerin Folke Köbberling hat 20 Anwohner dafür gewonnen, sich mit um die Schafe zu kümmern, die für ihr Projekt in einem Neubaugebiet grasen. (Foto: Folkwang Museum Essen)

Es gibt kleinere Interventionen wie eine in Kunststoff und anderthalbfacher Größe replizierte Rodin-Skulptur aus der Folkwang-Sammlung, welche die iranische Künstlerin Fari Shams durch eine VR-Brille ergänzt hat. Oder die stoffverhüllten anthropomorphen Figuren der Gursky-Schülerin Isabella Fürnkäs, die unter anderem in einem Tattooladen und einem Shop für Gothic-Paraphernalien ausgestellt sind. Und aufwendigere, wie "ASIA Restaurant", eine immersive Video- und Soundinstallation des in Essen arbeitenden taiwanesischen Choreografen Fang Yun Lo: In einem verlassenen chinesischen Restaurant wird die Geschichte von vier vietnamesischen Migranten in Deutschland und Taiwan erzählt.

"ASIA Restaurant", eine immersive Video- und Soundinstallation des in Essen arbeitenden taiwanesischen Choreografen Fang Yun Lo. (Foto: Folkwang Museum Essen)

Am 6. August wird zum Abschluss des Projekts ein Zug von Hagen nach Essen rollen. Der Brite Simon Starling, der 2005 mit seinem berühmten, aus einer Hütte in ein Boot umgewandelten "Shedboatshed" den Turner-Preis gewann, greift mit dieser Tour auf das Osthaus-Erbe zurück. Der Architekt Bruno Taut hatte im Auftrag von Karl Ernst Osthaus einen Versammlungsort namens "Stadtkrone" in Auftrag gegeben. Neben seinem Haus Hohenhof in Hagen sollten eine Künstlerkolonie und die Folkwang-Schule entstehen. Die Pläne wurden nie umgesetzt. Starling hat dem kleinen Waldstück, das heute am Hohenhof steht, Holz entnommen, aus dem nun Kohle gewonnen wird. Mit ihr soll nach Starlings Plan eine Dampflok aus den 1920er-Jahren angetrieben werden, die den Umzug von Hagen nach Essen vor 100 Jahren nachvollzieht.

"Folkwang und die Stadt" ist ein gelungenes Projekt. Die Verbindung des eigenen Museumsbestandes, der Stadt als Ausgangspunkt und Austragungsort sämtlicher Projekte und deren gesellschaftlichen Verästelungen gelingt erstaunlich überzeugend. Und vielleicht bleibt sogar der Kreisverkehr am Berliner Platz am Ende permanent ein bisschen idyllischer zurück.

Folkwang und die Stadt, bis zum 7.August in der City-Nord, Essen.

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