Essayistik:Wer da mitreisen könnte

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Rebecca Solnit wurde in Deutschland mit ihrem Buch "Wenn Männer mit die Welt erklären" (2015) bekannt.

(Foto: Getty Images)

Die Geschichte des Wanderns in Kultur und Literatur: auch eine weibliche Emanzipationsgeschichte, erzählt von Rebecca Solnit.

Von Cathrin Kahlweit

Das schöne deutsche Wort "Wanderlust" hat unlängst in Großbritannien einiges Aufsehen erregt, weil die BBC unter diesem Titel eine erotische Serie mit der australischen Schauspielerin Toni Colette ausstrahlte, in der es im Wesentlichen um diverse Formen des Sex ging. "Wanderlust" heißt auch eine umfassende Betrachtung der "Geschichte des Gehens" der US-amerikanischen Kunsthistorikerin, Schriftstellerin und Feministin Rebecca Solnit. Diese ist, wiewohl schon vor 19 Jahren geschrieben, jetzt erst auf deutsch erschienen.

Beide Werke haben, außer dem Titel, wenig miteinander zu tun, und doch: Die Philosophie hinter der ausführlich erzählten und expressiv bebilderten TV-Serie und hinter Solnits epischem Essay, das in Umfang und Herangehensweise an eine glänzend geschriebene Doktorarbeit erinnert, stimmt überein: Beide beschreiben die zunehmende Entfremdung von einem natürlichen Akt, der, wenn überhaupt, nur noch zielführend ausgeübt, mit technischen Mitteln angereichert oder durch sie ersetzt - und immer mehr kommerzialisiert wird.

Solnit, die sich lange vor der #MeToo-Debatte mit Texten zu Frauenfeindlichkeit und strukturell männlicher Dominanz befasst hatte und derzeit mit dem Essay-Band "Whose story is this?" erneut in die aktuelle feministische Debatte eingreift, hatte sich dereinst also mit der ihr eignen Intensität und Gründlichkeit einem ganz anderen Thema gewidmet: der menschlichen Fortbewegung. Die Amerikanerin sieht in rhythmischen Fortbewegungen wie Gehen, Wandern, Schreiten ein Mittel, das den Geist wach und lebendig hält und zum Denken anregt.

Sie habe, sagt sie, eine "Laiengeschichte" schreiben wollen, weil "Gehen eine Laienhandlung" sei, eine "Geschichte aller". Herausgekommen ist ein Vademekum von fast 400 Seiten, eng und in kleinen Buchstaben gesetzt, nicht bebildert, angereichert mit einer Überfülle von Ideen, Beispielen, Verweisen und Romanauszügen. Teils schwer zu lesen, weil Geduld erfordernd. Aber, wie das Wandern auch, gut zu bewältigen in Etappen, mit wachem Blick nach rechts und links, und getrieben von Entdeckerfreude.

Vom revolutionären politischen Akt des Marschierens zu einer Form des gewaltfreien Protestes

Dabei geht sie das Wandern grundsätzlich an: physiologisch, historisch, literarisch und politisch. Sie schreibt über Pilger und Poeten, über Landstreicher und Demonstranten, über Touristen und Grand Tours. Sie schildert, wie der revolutionäre Akt des Marschierens die Politik außerhalb geschlossener Räume prägte, wie Gehen mehr und mehr von einer Notwendigkeit zur Befreiung - und später dann zur Form des gewaltfreien Protestes wurde.

Pars pro toto für die Ideenfülle dieses Buches sei hier ihr Kapitel "Vom Garten in die Wildnis" aufgegriffen, das sie vorwiegend anhand von britischen Autoren und britischen Romanfiguren angeht. Solnit wertet die Wanderung des Geschwisterpaars William und Dorothy Wordsworth über die Penninen, ein englisches Mittelgebirge, als die "Geburt des Wanderns als kulturellen Akt, als Teil einer ästhetischen Erfahrung". Zwar seien Menschen immer gegangen, hätten auch Berge bestiegen, aber hier gehe es um das "Wandern um seiner selbst willen".

Sie durchmisst bei ihren Recherchen Jahrhunderte - und auch hunderte Regalmeter Wanderliteratur. Sie sucht das Überwölbende - und findet dabei, unter anderem, wiederum auch das Weibliche. So beschreibt die Universalgelehrte, die Solnit vor allem ist, welcher emanzipatorische Akt für Frauen im 18. und 19. Jahrhundert im Ausbruch aus dem Schutz oder dem Gefängnis von Heim und Garten und der Erfindung des Spaziergangs lag - und welche neuen Zugänge zu Natur und Ästhetik die Hinwendung zur langsamen Fortbewegung in der Botanik ermöglichte.

Vor allem für Damen galt das Querfeldeinwandern damals noch als ungehörig. Sie hatten sich in Haus und Garten zu ertüchtigen und, im besten Falle, in eigens dafür eingerichteten Galerien zu ergehen. Hatten hohe Mauern noch die mittelalterlichen Gärten umschlossen, so zog es die bessergestellten Frauen - die nicht etwa deshalb gingen, weil sie sich eine Kutsche nicht leisten konnten - jedoch bald zuerst in die natürlich gestalteten englischen Landschaftsparks, dann aber auch zunehmend in die Landschaft selbst.

Was folgte, war die Erfindung des Landschaftstourismus; man fuhr nun hinaus, um Natur zu sehen und zu erleben. Interesse an Landschaft galt als Zeichen von Kultiviertheit. Solnit findet dafür wunderbare Belege in einigen der berühmtesten Romane der damaligen Zeit, bei Jane Austen etwa und bei Thomas Hardy. Austens "Romane mit ihren eleganten jungen Frauen in ländlicher Umgebung liefern ein wundervolles Register der Wanderpraktiken", schreibt sie, und vertieft sich dann liebevoll in die Figur der jungen Heldin Marianne Dashwood aus "Verstand und Gefühl", die Natur romantisiert und in ihrem Überschwang bisweilen lächerlich wirkt.

Die Moderne Stadtarchitektur entledigt sich des Gehenden, des Bummelnden, des Passanten

Ganz anders Elisabeth Bennet in "Stolz und Vorurteil", die nicht nur wandert, weil ihr als junger Dame aus gutem Hause neben malen, Klavier spielen und schreiben nicht viel anderes zu tun bleibt, sondern die sich mit ihrer Wanderlust über alle Konventionen hinwegsetzt. Sie geht, um ihre kranke Schwester zu sehen, drei Meilen zu Fuß, allein, durch den Matsch. Sie verwandelt das Gehen in etwas Funktionelles und wird dafür verachtet. Wandern war für Frauen in Solnits Darstellung auch eine Emanzipationsgeschichte.

Dass sich Gehen oder gar Wandern in der funktionellen, menschenfeindlichen Moderne aber zunehmend zur in Gruppen durchgeführten Freizeitbeschäftigung oder zu einer auf Geräten im Fitnessstudio absolvierten Ablasshandlung für malträtierte Körper entwickelt hat, findet die passionierte Geherin Rebecca Solnit furchterregend. Ebenso wie die Tatsache, dass sich moderne Stadtarchitektur des Gehenden, des Bummelnden, des Passanten zunehmend entledigt.

Wandern, schreibt sie, sei eigentlich eine "Konstellation im sternenreichem Gewölbe der menschlichen Kultur, eine Konstellation aus den drei Sternen Körper, Imagination und offene Welt". Diese offene Welt finde man nicht auf den asphaltierten Bürgersteigen in autogerechten Städten. Sondern zum Beispiel auf dem Weg in den Lake District in England, in den ihre besorgten Verwandten die liebeskranke Elisabeth Bennet in Austens "Stolz und Vorurteil" mitnehmen wollen. "Was für Aussichten! Welche Freude! Das gibt mir neues Leben und neuen Mut", ruft die junge Frau beglückt. "Adieu Enttäuschung und Trübsinn. Was sind Männer gegen Felsen und Berge?"

Rebecca Solnit: Wanderlust. Die Geschichte des Gehens. Übersetzt von Daniel Fastner. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 380 Seiten, 30 Euro.

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