Süddeutsche Zeitung

Essay:Was man nicht sieht

Erwartungsmanagement oder Mehrdeutigkeit: Über das Literarische an guten Reportagen, das Ärgerliche an schlechten, und warum der Roman keine Alternative darstellt.

Von Felix Stephan

Als der Spiegel kürzlich bekannt gegeben hat, dass die Texte seines hochdekorierten Reporters Claas Relotius zum guten Teil ausgedacht waren, stand schnell der Begriff der Literatur im Raum. Dass die Texte schön und hervorragend komponiert seien, das sei schließlich unbenommen, nur wahr seien sie eben nicht. Selbst Relotius' Ressortleiter Ullrich Fichtner beschrieb, als er den Betrug offenlegte, das erzählerische Verfahren seines Reporters mit einer Künstler-Metapher: "Relotius arrangiert dieses Material, gruppiert es um ein Thema, um eine Figur, und er fährt ja auch hin zu den Orten, sieht manchmal Menschen, und sei es nur flüchtig, und all diese Elemente werden zu Farben wie auf der Palette eines Malers, aus denen er dann sein Bild des Lebens mischt." Als wäre Relotius, wenn er sich nur gleich dem Roman zugewandt und den Zwischenschritt als Reporter einfach ausgelassen hätte, heute immer noch einer der besten.

Dem Gedanken aber gehen gleich mehrere Irrtümer voraus bezüglich der Frage, was Literatur kennzeichnet, was sie vorhat, was sie unterscheidet von den berichtenden Formen und an welchen Punkten sich die beiden möglicherweise doch berühren. Die strukturalistische Antwort wäre hier ausnahmsweise mal die einfachste: Dem russischen Literaturwissenschaftler Roman Jakobson zufolge erkennt man literarische Texte unter anderem an ihrer Selbstreferenzialität und ihrer Mehrdeutigkeit, beides bei Relotius vollkommen abwesend.

Im Regelfall berufen sich erzählende Reporter aber nicht auf Jakobson, sondern auf Tom Wolfe, Truman Capote und den New Journalism der Sechziger- und Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, der literarische Erzähltechniken in den Journalismus einführte und der Bücher hervorbrachte, die sich wie Romane lasen, aber trotzdem Journalismus waren. Davon, dass auch Capote bei "Kaltblütig", seiner 400-seitigen Reportage über das Massaker an der Familie Clutter, die Grenze überschritten und die journalistische Integrität an den Effekt verraten hat, handelt Bennett Millers Film "Capote", für den Philip Seymour Hoffman 2005 den Oscar als bester Schauspieler bekommen hat.

Doch auch Tom Wolfe und Truman Capote haben die Erzählperspektive nicht in den Journalismus eingeführt, die gab es schon vorher, und sie hieß "Objektivität". Sie haben die Perspektive nur sichtbar gemacht, indem sie sie an eine Figur gebunden haben, die in den Texten erkennbar wurde: sich selbst.

Claas Relotius aber macht in seinen Reportagen genau das Gegenteil: Er versucht, eine Geschichte sinnlich zu erzählen, ohne jedoch Subjektivität zuzulassen. Stattdessen stellt er Dinge, die er im besten Falle ahnen kann, in den Indikativ, als handele es sich um unbestreitbare Tatsachen.

An einer Stelle schreibt er über einen syrischen Jungen, der Europa für eine Insel hält und noch nie ein Bild von Angela Merkel gesehen hat: "Helle Haut bedeutet für Ahmed, deutsch zu sein." Über einen Jemeniten, der in Guantanamo gefoltert wurde, schreibt Relotius im Präsens: "Bwasir verliert die Kontrolle über seinen Verstand, über seinen Körper." Und während Bwasir die Fußball-WM im Fernsehen schaut, erzählt Relotius: "Bwasir sieht bunte Farben, Menschenmassen, lachende Gesichter. Sie erscheinen ihm unwirklich."

Im Juli 2016 hat der amerikanische Schriftsteller George Saunders eine Reportage über den Wahlkampf von Donald Trump geschrieben, in der der Unterschied zwischen Relotius und dem New Journalism sehr deutlich wird, gleich in der ersten Szene.

In dieser Szene steht Saunders im Publikum einer Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump und berichtet, wie der Kandidat wirkt, wenn man ihn von dem Standpunkt aus betrachtet, von dem aus ihn seine Jünger sehen, von unten, aus der Menge heraus und aus einiger Distanz. Der erste Satz der Reportage: "Trump trägt eine rotes Baseballcap oder auch nicht." Saunders kann es nicht genau sagen, weil er so weit weg steht, und er schreibt es, weil es wahr ist.

Wovon er aber erzählen kann, ist sein Eindruck, sein Erlebnis, die Erfahrung als weißer Mann in seinen Fünzigern, der der Inbegriff des Ostküsten-Intellektuellen ist, auf einer Trump-Rally zugegen zu sein. Falls man jemals, schreibt Saunders, Donald Trumps Reality-TV-Show "The Apprentice" gesehen und auch einmal davon geträumt habe, dass Donald Trump einen beiseitenehme, einem große Talente attestiere und direkt aus der Fernsehshow heraus mit einem echten Job in der echten Welt ausstatte, dann könnte man auch auf dieser Wahlkampfveranstaltung, "für einen kurzen, peinlichen Moment, während er seinen Blick über die Menge schweifen lässt, erwarten, dass er einen erkennt". Ein Erzähler, der sich schämt, der gegen seinen Willen fasziniert ist, der eine menschliche Regung nicht nur auslösen will, sondern selbst empfindet!

Da ist im ersten Absatz mehr Neues, Grenzüberschreitendes, Unwirkliches vorhanden als in Relotius' Gesamtwerk. Und trotzdem ist auch das noch immer keine Literatur im engeren Sinne, sondern transparenter, genauer Journalismus, weil er all das offenlegt, thematisiert, und zum Bedeutungsträger macht, was die Texte von Relotius zu verbergen versuchen: die Grenzen des eigenen Blicks, die Fragilität erzählter Wirklichkeit, die Autonomie der Perspektive. So ist David Foster Wallace in "Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich" vorgegangen, Emmanuel Carrère in "L'Adversaire", Wolfgang Büscher in "Berlin - Moskau": Sie formulieren die eigene Voreingenommenheit, stellen erkenntnisstiftend ihre eigene Ratlosigkeit aus, ihr Staunen und, wenn nötig, Unverständnis.

Die Krise ist nicht nur eine des "Spiegel", sondern eine Textverständniskrise des ganzen Berufsstandes

Bei Relotius hingegen passt immer alles zusammen, eins führt zum anderen, alles fügt sich zu einem Ganzen, als hätte es die vergangenen 150 Jahre Erzähl- und Erkenntnistheorie nicht gegeben.

Und deshalb ist die Tatsache, dass er damit so lange durchgekommen ist, tatsächlich nicht nur das Symptom einer institutionellen Krise beim Spiegel. Es ist eine Systemkrise, eine kognitive Krise, eine Textverständniskrise eines Berufsstandes, der sich mit den Grenzen des Erzählens eigentlich besser auskennen sollte als alle anderen: der Journalisten.

Was sahen die zahllosen Juroren, die diese Texte in den vergangenen Jahren routinemäßig als die besten ihrer Art auszeichneten, die Relotius zum Journalisten des Jahres krönten, zu einem der besten Europas? Vermutlich das hier: Eine Welt, die ihnen plausibel schien, weil sie ihnen vertraut vorkam, und sie wurden nicht skeptisch, obwohl bei Relotius alles so mundgerecht serviert wurde, obwohl es so wenig Originelles und Neues in Erfahrung zu bringen gab, sondern sich die Dinge genauso zueinander verhielten, wie sie es sich ohnehin gedacht hatten.

Relotius' Reportagen haben dieser Welt eine gewisse Zwangsläufigkeit, Folgerichtigkeit und faktische Normativität verliehen, schließlich hatte er sie mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht lassen sich Relotius' Reportagen in diesem Sinne am ehesten als, na ja, Spiegel lesen, die implizit von der Welt erzählen, die diese Texte in Auftrag gibt, verbreitet und prämiert.

Auch deshalb haben diese Texte mit Literatur noch weniger zu tun als mit Journalismus: Sie erzählen stets das Wahrscheinliche. Nicht jedoch das Wahrscheinliche in der Variante des realistischen Romans, der die Wirklichkeit künstlerisch überformt und eine eigene Welt hervorbringt, die bei genauerem Hinsehen irrsinnig artifiziell, arrangiert, prototypisch ist und von tausenden Zufällen abhängig und so nie existiert haben kann, die auf das Publikum aber trotzdem wahrscheinlich wirkt, so als könnte es sich wirklich so zugetragen haben, obwohl es in die Zukunft schaut. Sondern das Wahrscheinliche im Sinne von: was der Autor glaubt, dass es nicht auf Widerstand treffen und keinen Verdacht erregen wird, weil es seinen Kunden wahrscheinlich vorkommt. Letztlich Erwartungsmanagement. Oder sogar, in ihrer freiwilligen, subkutanen, selbstbeschränkenden und im gewissen Sinne unverzeihlichsten Variante: Ideologie.

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Quelle:
SZ vom 11.01.2019
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