Das Istanbul meiner Kindheit habe ich wie ein Schwarzweißfoto erlebt, als halbdunklen, bleigrauen Ort, und so habe ich es bis heute in Erinnerung.
Blick von der Galata-Brücke auf die Rustem Pasa Moschee in Istanbul.
(Foto: Foto: Reuters)Die Schwarzweißatmosphäre, die mit dem melancholischen Charakter der Stadt unauflöslich verbunden ist und von den Istanbulern, weil sie darin ihr Schicksal sehen, immer wieder von neuem kreiert wird, lässt sich am besten verstehen, wenn man an einem Wintertag aus einer wohlhabenden europäischen Stadt mit dem Flugzeug in Istanbul eintrifft und sich sofort in das Menschengewühl im Zentrum der Stadt an der Galata-Brücke stürzt und mit ansieht, in was für farblosen, ausgebleichten, mausgrauen Kleidern die Leute dort herumlaufen.
Beim Anblick der Istanbuler, die im Gegensatz zu ihren reichen, stolzen Vorvätern kaum einmal ein kräftiges Rot, Orange oder Grün tragen, mag es dem Fremden erscheinen, als sei diese Unscheinbarkeit irgendeiner besonderen Moralauffassung gedankt.
Dem ist natürlich nicht so, es herrscht nur eine tiefe Melancholie vor, die einem eine Moral der Bescheidenheit geradezu nahelegt. Das seit hundertfünfzig Jahren auf der Stadt lastende Gefühl des fortwährenden Scheiterns manifestiert sich in zahllosen Schwarzweißperspektiven, und eben auch in der Kleidung.
Die Abwesenheit von Hüzün ist schmerzlich
Werfen wir nun einmal einen genaueren Blick auf dieses Gefühl, das im Türkischen "Hüzün" heißt. "Hüzün" ist ein Lehnwort aus dem Arabischen. Im Koran kommt es in der Bedeutung, die es in etwa im heutigen Türkisch hat, in zwei Versen und in abgewandelter Form in drei weiteren Versen vor. Die Bezeichnung des Todesjahres von Mohammeds Frau Hatice und seinem Onkel Ebu Talip als "senetul huzun", also "Hüzün-Jahr", deutet bereits an, dass der Begriff einen schmerzlichen Verlust charakterisiert.
Aus meinen Lektüren geht hervor, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte islamischer Geschichte aus dieser ursprünglichen Bedeutung zwei grundsätzliche Sinnvarianten abgespalten haben.
Die erste führt das Auftreten von Hüzün auf unverhältnismäßige Hinwendung zu Profitstreben und diesseitigen Genüssen zurück und mahnt gleichsam: "Wenn du dich nicht an Vergängliches klammern würdest und stattdessen ein aufrichtiger Muslim wärst, würden weltliche Verluste dich ohnehin nicht bekümmern." Die zweite, sich aus dem Sufismus herleitende Variante hingegen sieht den Verlust an sich und den Schmerz darüber weit positiver. Nach sufistischer Auffassung rührt Hüzün von jenem Gefühl der Unzulänglichkeit her, Gott nicht nahe genug zu sein und hienieden für Gott nicht genügend tun zu können.
Da ein echter Sufi sich weder um Hab und Gut noch um den Tod scheren darf, muss bei ihm das Gefühl von Verlust und Entbehrung mit der fehlenden Nähe zu Gott und unzureichender Tiefe des Seelenlebens zu tun haben. Und somit wird nicht etwa das Auftreten von Hüzün als schmerzlich empfunden, sondern vielmehr seine Abwesenheit.