Essay:Salonfähig

USA. New York City. 1963. Literary cocktail party at George PLIMPTON's Upper East Side apartment.

Wer wollte da nicht mitreden? Auf dieser Party in New York trafen sich 1963 Schriftsteller wie Truman Capote (Bildmitte, auf dem Sofa), Mario Puzo (rechts neben dem Fenster stehend mit Glas und Brille), George Plimpton (vorne links sitzend).

(Foto: Cornell Capa / International Center of Photography)

Noch vor wenigen Jahren galt die Literaturkritik als aussterbende Art, wenn nicht sogar als überflüssig. Doch inzwischen bekommen die Leser gar nicht genug davon.

Von Lothar Müller

Es gibt wieder Salons in Deutschland, darunter viele literarische Salons, nicht nur in den Großstädten, sondern auch im Internet. Einer, er heißt "tell - Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft" hat vor kurzem, während der Leipziger Buchmesse, seine Türen geöffnet und enthält die feste Rubrik "Kunst der Kritik", bisher bespielt von der Herausgeberin Sieglinde Geisel.

Ein erster Kurzessay handelte von der Lust am Text, vom Lesen als körperlichem Vorgang, und von der gastronomischen Metaphorik der Lektüre (Bücher verschlingen, verdauen etc.), die das Geschmacksurteil umgibt. Anders, als es das Sprichwort will, lässt sich über Geschmack sehr wohl streiten. Wenn jemand sagt "Ich habe mich bei dem Buch zu Tode gelangweilt", ein anderer "Ich war fasziniert von der ersten Seite an", braucht es dazu nur ein Wort, das Fragewort: Warum?

Zu einem literarischen Salon gehört die Spielregel, Geschmacksurteile begründen zu können. Der zweite Essay der Salonnière, in dieser Woche erschienen, formulierte das so: "Emil Staigers Aufforderung, wir sollten ,begreifen, was uns ergreift', richtet sich nicht an den Bauch, sondern an den Kopf. Es ist ein intellektuelles Vergnügen herauszufinden, welche Worte und Vorstellungen uns fesseln, erschüttern - oder auch langweilen. Es ist ein Vergnügen, und es ist Arbeit, denn in dieser Forschung besteht das eigentliche Handwerk der Literaturkritik, überhaupt das Wesen jeder antwortenden Lektüre."

Das ist nicht neu, das sind sehr alte Hüte. Sie führen zurück an den Ursprung der Literaturkritik im 18. Jahrhundert, als Lessing die Kritik als kollektive Selbstaufklärung von Geschmacksurteilen entwarf, in einer Sprache, die salontauglich war, und in einer gedanklichen Schärfe, die er im Trainingslager von Philologie und Theologie erworben hatte. Es gibt Gründe, warum die alten Hüte jetzt wieder aufgesetzt werden. Das Magazin "tell" ist aus einem Unbehagen am Zustand der Kritik entstanden, das vor einem Jahr unter dem Titel "Fahrenheit 451" kurz aufflackerte. Diesen Titel hatte der langjährige Redakteur der Frankfurter Rundschau, Wolfram Schütte, ins Spiel gebracht, um im Online-Magazin Perlentaucher das Projekt einer großen digitalen literarischen Zeitung zu lancieren. Sie sollte an "eine bunt nach unterschiedlichen Interessen & Launen gemischte Käufer-& Leserschicht jenseits des saisonal affizierten Mainstreampublikums" adressiert sein und "Rezensionen & Kritiken" in den Mittelpunkt stellen.

Aus dem Großprojekt wurde nichts, geblieben ist - auf noch unsicherer finanzieller Grundlage - der Salon "tell". Die Internetadresse "tell-review.de" enthält eine Reverenz an den angelsächsischen criticism. Dieser hat zwar in den amerikanischen und englischen Tageszeitungen an Terrain verloren, aber wer in den großen Zeitschriften blättert und die ihnen zugeordneten Blogs liest, in der New York Review of Books, im Times Literary Supplement, in der London Review of Books oder in der Zeitschrift n+1, der bekommt einen Eindruck davon, an welchen Standards sich die deutsche Sehnsucht nach anspruchsvollen Rezensionen und Kritiken orientiert.

Längst gehören früher gering geschätzte Genres in Büchern, Musik und Film zur anerkannten Kultur

Wenn etwa Tim Parks darüber räsoniert, warum er die Urteile guter Freunde, die zugleich gute Leser sind, über dies oder jene Buch nicht teilen kann, wenn James Wood im New Yorker begründet, warum ihn der hochgelobte "Distelfink" von Donna Tartt an Kinderliteratur erinnert, oder wenn, wie in dieser Woche, der Ire Colm Toíbín im Magazin Prospect über die Enttäuschung schreibt, die James Baldwin bei seinem Verlagshaus mit seinem zweiten Buch "Giovannis Room" (1956) auslöste, weil darin die Figuren weiß waren und sie einen weiteren Harlem-Roman wollten, er sei schließlich ein "Negro Writer".

Mehr begründete Urteile, weniger Paraphrase von Romaninhalten, mindestens so viel "close reading" der Texte wie des Outfit und Lebensstils der Autoren, das ist zumal unter den jüngeren Literaturinteressierten in Deutschland, die Englisch lesen, häufig zu hören, in Blogs und Zeitschriften zu lesen. Die Ausweitung der Gegenstände der Literaturkritik seit gut einer Generation ist dabei vorausgesetzt: die Allgegenwart des Kriminalromans, die selbstverständliche Anwesenheit des leichten Fachs und der Genre-Literatur. All das war ein Segen, zumal in Deutschland, wo die Schmutz-und-Schundkampagnen sehr gründlich betrieben wurden.

Auch zu dieser Ausweitung trug die Orientierung an der angelsächsischen Kultur entscheidend bei, ob beim jungen Peter Handke oder bei Jörg Fauser. Wenn es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten einen nahezu unangefochtenen Siegeszug gegeben hat, dann war es der aller "popkulturellen" Phänomene. Die Älteren haben das vor allem als Emanzipation und Befreiung erlebt, als Anerkennung und endliche Aufwertung lange verachteter Regionen des modernen Lebens und seiner ästhetischen Ausdrucksformen: von der Heftchenliteratur bis zur Welt der Schlager. Es konnte nicht ausbleiben, dass diese Aufwertung die "Hochkultur", die sich schließlich selbst so genannt hatte, für ihren Hochmut büßen ließ.

Inzwischen sind Rebellion und Emanzipation nicht mehr das Hauptmotiv des Pop. Je avancierter eine Pop-Theorie, desto mehr Gewicht legt sie auf das Abhandenkommen der "Subversion". Die Rebellion und Subversion hatten aber immer schon ein Gegenwicht: die ungeheueren Affirmationsenergien, die in der Pop-Kultur, zumal in der Musik, freigesetzt wurden und eine ihrer Schlüsselfiguren schufen, den Fan. Darum musste sich die Pop-Kritik, wollte sie satisfaktionsfähige Musikkritik werden, von der Fankultur emanzipieren. Sie brauchte Kategorien, Genrebegriffe, eine Sprache für die Beschreibung von Stilnuancen.

Nur in Deutschland wurde der Kritiker als Störenfried verachtet, der sich zwischen Autor und Leser drängt

Während die Pop-Kritik mit dem Siegeszug ihrer Gegenstände immer terminologischer wurde und Stil-Genealogien konstruierte, denen gegenüber die Einflussforschung der germanistischen Philologie des 19. Jahrhunderts als eher weitmaschig geknüpftes Netz erschien, wurde die Literaturkritik im Bemühen, das Leben nicht zu verpassen, immer lockerer. Kaum erschien ein Roman, in dem eine Kneipe die Hauptrolle spielte, schon verabredete sie sich dort mit dem Autor. Denn wenn sie selbst Genres identifizierte, begrifflich argumentierte, Echoräume rekonstruierte, fanden das Leute, die noch bei der dritten Reihe aktueller Heavy-Metal-Bands Zahl und Herkunft aller Cover-Versionen herbeten konnten, "irgendwie akademisch".

Mit großem Recht steht der Fan in Spannung zur Kritik. Denn eine Kunst braucht Fans, um groß zu werden. Aber leider gilt auch, dass eine Kunst, die nur Fans hat, unweigerlich zugrunde geht. Als die Literaturkritik in Deutschland aufblühte, hieß der Popliterat Goethe, die affirmativen Energien der Leser seines "Werther" explodierten, und der Kritiker Lessing hätte sich vom Autor ein wenig mehr Zynismus gegenüber seinem Helden gewünscht.

Denn die Kritik war schon damals ziemlich cool: Wenn die Literatur so tat, als habe das Leben selbst sie diktiert, dann fragte sie nach den "Schlichen", durch die sie diesen Schein erzeugte. Die Coolness war aber, wie in dieser Passage von Friedrich Schlegel, deren Echo bis in den amerikanischen Criticism und seine Salons reicht, Enthusiasmus der zweiten Stufe: "Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können: sonst fehlt uns, was wir auch für andre Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall. . . . So mögen wir uns gern dem Zauber des Dichters entreißen, nachdem wir uns gutwillig haben von ihm fesseln lassen, mögen am liebsten dem nachspähn, was er unserm Blick entziehen oder doch nicht zuerst zeigen wollte, und was ihn doch am meisten zum Künstler macht: die geheimen Absichten, die er im stillen verfolgt."

Werther hatte viele Fans, der Geniekult mochte sich seine Lieblingsidee, aus dem Dichter spreche die Natur selbst, von der Kritik nicht nehmen lassen. Und zum hochfahrenden Selbstbewusstsein des modernen Autors gehörte nicht selten, bis hin zu Günter Grass, die Verachtung des "Sekundären" - war nicht bei näherer Betrachtung die Kritik eine Art Parasit der Literatur? Der Kritiker galt in Deutschland lange nicht als eine Figur eigenen Rechts, sondern als Störenfried, der sich zwischen den Autor und den Leser drängt, bis heute, auch wenn der Geniekult längst anders - und der aktuelle Autor der Geschichte einer kranken Seele Benjamin von Stuckrad-Barre heißt.

Wenn jetzt die alten Hüte Rezension und Kritik entstaubt werden, lebt vielleicht eine Kunst wieder auf, die derzeit nicht in hoher Blüte steht: die Charakteristik. Ihr ideales Biotop ist ein Salon, wie jeder weiß, der einmal in Molières "Menschenfeind" die spitzzüngige Célimène auf der Bühne gesehen hat. Die Charakteristik von Menschen auf Bücher zu übertragen, ist die Grundidee der Literaturkritik. Sie fragt nicht nach dem Ich von Karl Ove Knausgård, sondern zeichnet nach, wie er als Autor seine Ich-Figur entwirft. Mit Rubriken und Kategorien allein ist es dabei nicht getan, mit Zusammenfassung und Paraphrase auch nicht. Die Charakteristik der Bücher zielt wie die der Menschen auf das Individuelle und deutet an, "wie das Ganze konstruiert ist" (Friedrich Schlegel). Das nimmt den Autorenporträts und Celebrity-Artikeln, die lieber Menschen charakterisieren, nicht ihren Sinn. Aber es trägt zum Reiz von Salongesprächen bei.

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