Süddeutsche Zeitung

Essay:Rationalität und Sinnlichkeit

Lesezeit: 3 min

Siri Hustvedts kunstvoller Essay "Die Illusion der Gewissheit" über die Grenzen der Messbarkeit.

Von Sofia Glasl

Die amerikanische Autorin Siri Hustvedt führt ein publizistisches Doppelleben. Sich selbst nennt sie eine intellektuelle Vagabundin, eine Weltenwanderin zwischen den Disziplinen. Ihre Romane und Essays haben tatsächlich oft etwas von geistigen Reisen, die sowohl ihre Figuren als auch ihre Leser in Gedankenschleifen und Assoziationsketten mit existenziellen Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung konfrontieren. In ihrem Roman "Die gleißende Welt" (2015) etwa heuert die fiktive Künstlerin Harriet Burden drei Männer an, um sie als lebende Pseudonyme für ihr eigenes Werk einzusetzen und so die Misogynie der Kunstwelt anzuprangern.

Statt Eindeutigkeit sucht Hustvedt bewusst den Schwebezustand der Vielstimmigkeit, ihr Schreiben entsteht aus einem grundsätzlichen Zweifel absoluten Setzungen gegenüber. Sie befragt die Welt immer im Wissen darum, dass sie ihre persönliche Perspektive nicht ausblenden kann. Deshalb bezieht sie sie selbstbewusst und selbstreflexiv in ihr Nachdenken ein. Ihr 2010 erschienener autobiografischer Essay "Die zitternde Frau", in dem sie ihre eigene Nervenkrankheit analysierte, fand auch in der medizinischen Fachwelt großen Anklang. Seitdem veröffentlicht die promovierte Anglistin regelmäßig wissenschaftliche Aufsätze in den Bereichen Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften, seit 2015 ist sie auch Dozentin für Psychiatrie.

Hustvedt weiß, dass sie ihre eigene Perspektive nicht ausblenden kann

Bisher liefen ihre literarischen und wissenschaftlichen Projekte scheinbar parallel nebeneinander her. Mit ihrem neuen, sehr persönlichen Essay "Die Illusion der Gewissheit" schlägt sie jetzt die Brücke zwischen den vermeintlich gegensätzlichen Polen. Dabei knüpft sie direkt an einige Aspekte aus "Die gleißende Welt" an: Harriet Burdens Alter Ego, die britische Philosophin Margaret Cavendish, ist auch hier die Hausheilige, an deren Naturphilosophie Hustvedt sich orientiert. Der beinahe 400 Seiten starke Text ist ein Versuch über das Leib-Seele-Problem, also die Erklärungslücke, die zwischen dem Gehirn und dem Geist aufklafft. Wo im Körper ist das Bewusstsein anzusiedeln, wo die Moral? Sind diese in bestimmten Teilen des Gehirns auszumachen oder jenseits jeder Materialität? Wie ist es möglich, dass Geist und Körper Einfluss aufeinander haben, wenn es keine Einwirkung von außen gibt, etwa beim Placebo-Effekt eines Medikaments? Sie befragt dabei zunächst klassische Erkenntnistheoretiker wie Descartes und Hobbes, sucht jedoch auch bei unbekannten Philosophen, bei Biologen, Medizinern und Genetikern, bei Physikern, Kognitions- und Neurowissenschaftlern nach neuen Perspektiven auf ein und dasselbe Ausgangsproblem.

Hustvedt entlarvt die grundsätzliche Problematik dichotomischen Denkens, mit dem die Wissenschaft seit der Antike die Zusammenhänge vereinfacht. Sie macht die kartesianische Trennung von Körper und Geist verantwortlich für die im westlichen Denken vorherrschende, meist unbewusst vorgenommene Trennung und Hierarchisierung von Rationalität und Sinnlichkeit, Natur- und Geisteswissenschaft sowie Männlichkeit und Weiblichkeit. Das ist der Grundsatzvorwurf, den Siri Hustvedt in ihren Essays durchspielt.

Dabei identifiziert sie Brüche und Leerstellen, die sich ergeben, wenn man ein Problem nur aus einer Perspektive betrachtet. Bis heute gibt es beispielsweise die gängige Metapher vom menschlichen Gehirn als Computer, bei dem die genetische Disposition als Verkabelung gedacht wird. Das Bild suggeriert, dass auch Persönlichkeitsmerkmale fest verdrahtet sind, ähnlich wie bei einer Maschine. Doch gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass die Persönlichkeit genetisch festgelegt ist, vielmehr wird sie von äußeren Einflüssen bedingt und bleibt immer im Fluss. Jeder Forschungsbereich ist von einer eigenen Sprache geprägt, die sich nicht notwendigerweise mit den Begrifflichkeiten der Nachbardisziplinen decken muss, auch dadurch entstehen hartnäckige Missverständnisse. Wissenschaftliche Gewissheit innerhalb eines Fachbereichs wird so zu einer sprachlichen Illusion. Anhand anschaulicher Beispiele und Studien, aber auch eigener Erfahrungswerte, zeigt Hustvedt, dass objektives Forschen weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften möglich ist. Durch die permanenten Perspektivwechsel aber entsteht eine Haltung selbstreflexiver Distanz, die sich auf dynamische Prozesse statt Dichotomien verlässt und so neue Lösungsansätze für bestehende Probleme ermöglicht.

Die Geschlechterunterschiede in den Naturwissenschaften sind durchaus Moden unterworfen

In dem Kapitel "Frauen können keine Physik" hinterfragt sie den in vielen Studien nahegelegten Geschlechterunterschied in den Naturwissenschaften, der oft durch die bei Männern angeblich biologisch besser ausgebildete Fähigkeit des dreidimensionalen Vorstellungsvermögens begründet wird. Hustvedt vergleicht eine Vielzahl von Studien und kommt zu dem Schluss, dass diese Leistungsunterschiede durchaus gewissen Moden unterworfen sind, es sich also nicht um ein biologisches Phänomen handelt, sondern um ein kulturelles. Die Ergebnisse dieser Studien erklären sich nicht zuletzt dadurch, dass die wissenschaftlichen Disziplinen Biologie und Kultur trennen, statt beide Bereiche zu berücksichtigen. Von Objektivität kann schwerlich die Rede sein. Die Ergebnisse gehen aus der Fragestellung hervor. Hustvedt zeigt auch, dass Frauen schlechter abschneiden, wenn man ihnen vorher sagt, dass Männer die Aufgaben grundsätzlich besser lösen.

Auch wenn die Fülle und Tiefe dieses Essays auf den ersten Blick unbezwingbar erscheint, erleichtert seine netzwerkartige Struktur den Einstieg. Die thematischen Perspektiven, die Hustvedt hier öffnet, sind zwar einer groben historischen Chronologie unterworfen, doch die netzwerkartige Struktur des Essays ermöglicht es, in nahezu jedem Kapitel einzusteigen oder querzulesen, um sich von bekannten Theorien und Themen in unbekannte Forschungsgebiete vorzuarbeiten.

Siri Hustvedts umfassendes interdisziplinäres Wissen und ihre Arbeit in den oft getrennt agierenden Bereichen der Natur- und Geisteswissenschaften verleihen ihr eine beneidenswerte gedankliche Flexibilität. Es ist eine reine Freude, ihr dabei zuzusehen, wie sie bestehende Forschungsbereiche und -positionen miteinander in Beziehung setzt. "Die Illusion der Gewissheit" liest sich wie eine hybride Poetik des Geistes, hier münden Hustvedts literarisches Werk und ihre wissenschaftlichen und philosophischen Essays in eine ganz eigene Variante poetischer Gelehrsamkeit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3985409
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.05.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.