Süddeutsche Zeitung

Essay "Natur":Der Weise von Concord

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Von Florian Welle

Waldbaden liegt schwer im Trend. Dabei soll der rastlose Mensch von heute runterkommen und die Natur mit allen Sinnen wieder wahrnehmen lernen. Dem amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson hätte dieses Ab-in-die-Natur unter Anleitung sicher gefallen. Einerseits. Andererseits hätte der Nonkonformist und ausgewiesene Gegner der Sklaverei sicherlich Anstoß am Wie genommen. Vor allem aber hätte er darin einen weiteren Beweis für seine These gesehen, dass "nur wenige erwachsene Menschen imstande sind, die Natur zu sehen".

Das Zitat stammt aus "Nature", jenem an der Sprachbeherrschung Montaignes geschulten Essay, mit dem der 33-Jährige, der wenige Jahre zuvor sein Pfarramt aufgab, 1836 erstmals aufhorchen ließ - schon bald galt der Text als Gründungsakte des neuenglischen Transzendentalismus, der in einer wilden Aneignung etwa von klassischer Antike über deutschen Idealismus bis zu englischer Romantik für den selbstverantwortlichen, optimistisch gestimmten Menschen eintrat.

"Baue deshalb deine eigene Welt" schreibt Emerson, was heutigen Ohren vertraut klingt. Nur dass er nicht an sich selbstoptimierende Ego-Shooter dachte. Bei ihm war Antimaterialismus Trumpf, der Mensch als Bindeglied zwischen Natur und Gott solle sich bemühen, Teil einer universellen Ordnung zu werden. Kein Wunder, dass David Thoreau sein Schüler war, auch der Einfluss auf Zeitgenossen wie Emily Dickinson und Walt Whitman ist kaum zu überschätzen. Nietzsche bewunderte den "Weisen von Concord", der seine Gedanken für "Kinder des Waldes" hielt.

Schritt für Schritt legt Emerson die Bedeutung der Natur für den Menschen dar. Sie "dient ... einer Liebe zur Schönheit"; sie vermag ihn zu "vergöttlichen"; sie ist "Schulung für uns"; schließlich "wirkt sie mit dem Geist zusammen, um unsere Befreiung zu erwirken". Egon Friedell hat einst geschrieben: "Zur Freude an der Natur kann man niemand überreden, zur Freude an Emerson auch nicht." So ist es.

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Quelle:
SZ vom 04.06.2019
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