Essay:Ich bin anderswo

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"Der erste Tritt in die Pedale ist der Beginn einer neuen Autonomie": Marc Augé hat ein mitreißendes Lob des Radelns geschrieben.

Von Fritz Göttler

Nach dem Krieg kam in Frankreich die Radlfreiheit ("Vélo liberté") in Schwung, 1949 drehte Jacques Tati sein "Jour de fête/Schützenfest", Fausto Coppi gewann den Giro d'Italia und die Tour de France. Das Fahrrad war noch voll integriert in die Alltags-, die Arbeitswelt, viele fuhren damit zur Arbeit. Tati als Landbriefträger, der mit seinem Rad verwachsen scheint und traumwandlerisch in die Moderne taumelt, und Coppi, der Held, der vom Glück und Triumph des Radrennfahrers schon träumte, als er für eine Metzgerei die Ware ausfuhr - die linke Presse liebte ihn, den Sohn des Volkes, und seine ehebrecherisch-romantischen Abenteuer erregten den Zorn des Vatikans.

Persönliche Erinnerungen stehen am Anfang jeder guten Eloge, und Marc Augé findet einen schönen Ton zwischen Wehmut und Ironie in seinem kleinen "Lob des Fahrrads". Er ist bekannt für seine Schilderung der "Nicht-Orte" - Shopping Malls, Autobahnen, Flughäfen -, die das Bild der modernen urbanen Gesellschaft bestimmen. Von den Fahrrädern erwartet er sich neue Impulse für die Zukunft der Stadt, er verweist auf Radlstädte wie Amsterdam oder Kopenhagen, und in Paris und Lyon werden nun kostenlos Räder zur Verfügung gestellt.

"Der erste Tritt in die Pedale ist der Beginn einer neuen Autonomie . . ."

Die "kleine Königin" - so nennt man in Frankreich das Radl - hat in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung verloren und auch ihr Prachtstück, die Tour de France, die für Marc Augé einst ein Epos war, der Ilias gleich, und ein "Erinnerungsort" par excellence. Seit Roland Barthes, der gern und kundig über Sport geschrieben hat, wissen wir um den intrikaten, manchmal paradoxen Mechanismus des Mythos. "Weil in Frankreich der Mythos zugrunde geht", erklärt Marc Augé, "gewinnen Franzosen keine Rennen mehr, nicht etwa umgekehrt."

In der Erfahrung des Radelns sind Philosophie und Literatur reflektiert, von Rimbaud bis Sartre. "Der erste Tritt in die Pedale ist der Beginn einer neuen Autonomie . . . Innerhalb weniger Sekunden befreit sich der begrenzte Horizont und die Landschaft gerät in Bewegung. Ich bin anderswo. Ich bin ein anderer; und dennoch bin ich so sehr ich selbst wie sonst niemals; ich bin, was ich entdecke." Marc Augé skizziert eine Dialektik von Zeit und Ewigkeit, Einsamkeit und Geselligkeit, und wird vom Schwung der Pedale in eine hinreißende Utopie gerissen, wie das Radeln die ganze Welt verbessern wird - der erradelte Raum ist "ein poetischer Raum im vollen und ersten Sinn des Wortes".

Marc Augé: Lob des Fahrrads. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. C. H. Beck, München 2016. 104 S., Abb., 14,95 Euro. E-Book 9,99 Euro.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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