Essay:Gefühl, das im Herzen quillt

"Andachtsbild 2020" ist das Thema einer Ausstellung, gestaltet von Schülerinnen und Schülern der Münchner Kunsthandwerke. Gedanken zu einer Emotion, die nicht der Weihnachtsgeschichte vorbehalten ist

Von Karl Forster

Im Weihnachtsevangelium von Lukas kommt das Wort "Andacht" nicht vor. Auch nichts Anverwandtes. Es sei denn, man lässt den Satz "sie fürchteten sich sehr" als die der Andacht verwandte "Ehrfurcht" gelten. Dabei möchte man darauf wetten, dass sowohl die Hirten, die damals auf dem Felde weilten und vom Engel die Botschaft von der Niederkunft Mariens verkündet bekamen, sehr, sehr andächtig waren, als sie das Kindlein, in Windeln gewickelt, in der Krippe liegen sahen. Auch den heiligen drei Königen darf man, im Nachhinein, andächtiges Staunen zuschreiben, wie sie vor dem Kinde niederfielen und ihm huldigten.

Es hat einen simplen Grund, warum der Evangelist Lukas auf alles Andächtige in seinen Berichten verzichtete: Das Wort gab es damals noch gar nicht. Zumindest nicht in einer Form, die bei einer späteren Übersetzung ins Deutsche adäquat gewesen wäre. Erst im Althochdeutschen, also um die erste Jahrtausendwende, kam das Verbum "anathenken" in den Sprachgebrauch, als "an etwas denken"; und wiederum erst ein paar Jahrhunderte später, zur Zeit des Mittelhochdeutschen, schlagen die Sprachwissenschaftlicher hier eine Tangente ins Religiöse, sahen in dem Wort Andacht "eine Hinwendung zu Gott". Trotzdem steht auch heute noch das Adjektiv "andächtig" gleichwertig für "ergriffen, versunken, hingebungsvoll"; allesamt Eigenschaften, die man nicht nur, aber eben auch den Hirten und den drei Königen vom Jahre Null zuschreiben darf.

Wenn also nun mehr als achtzig angehende Kunsthandwerker aus acht Klassen der ortsansässigen Schulen im Rahmen eines vom Diözesanmuseum Freising ausgelobten Wettbewerbs in den Gewerken Holz, Stein, Lack, Gold- und Silberschmiede sich der Aufgabe widmeten, unter dem recht einfachen Titel "Touch me" ein Andachtsbild in ihrer jeweiligen Disziplin zu erschaffen, darf man eine gewisse Deutungsvielfalt erwarten. So reicht die Bandbreite vom "Selfie mit Jesus" über die in gedrechselter Esche stilisierte Familie bis zur brachialen Anklage gegen die deutsche Rüstungsindustrie mit Pistole, Geldscheinen und der Überschrift "From Germany With Love". Dass für diese Ausstellung auch noch ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde, bleibt eher nebensächlich. Denn nicht jeder sieht für sich eine direkte Verbindung zum Kind in der Krippe. Was soll man also bewerten? So wie auch nicht jeder das katholische Glaubensbekenntnis verinnerlicht hat und stattdessen vielleicht "nur" an "etwas Ähnliches wie die Ewigkeit" glaubt.

Denn auch dabei hilft eine wie dann auch immer geartete Andacht, ganz im Sinne von "ergriffen, versunken, hingebungsvoll". Wer also beispielsweise am Strand von Naoussa auf der griechischen Insel Paros, auf dem Rücken liegend, nächtens auf die Milchstraße schaut, kann sich gar nicht wehren gegen dieses Gefühl der Erhabenheit angesichts der Unendlichkeit, von der ja auch nur ein ganz klein bisschen am Himmel leuchtet.

Und doch haben die Kirchen der Welt, vor allem die evangelische und die katholische, nicht nur an Weihnachten die Andacht für sich reklamiert. Zeigt sich das in der Liturgie des Protestantismus vor allem im traditionell intensiven Gesang und in der Architektur mit ihrer fast provokanten Lehre von der räumlichen Leere (die durch den Blick nach innen Andächtigkeit hervorrufen kann), so hat die katholische Kirche über die Jahrhunderte ihren Andachtsweg oft überwältigend bildhaft gestaltet.

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(Foto: Diözesanmuseum Freising/Dashuber)

Schon seit dem Mittelalter gibt es das kleine Andachtsbild, häufig mit den Motiven des Schmerzensmanns, der Pieta oder der Mater dolorosa bestückt, um den Betrachter zumindest nachdenklich zu stimmen. Diese Andachtsbilder waren so beliebt, dass sie bald den Weg fanden ins profane Leben, zunächst als Totenbildchen, Wallfahrts- oder Primizerinnerungen, später dann als Stempelmuster und Wandschmuck. Und wer jetzt an Dürers "Betende Hände" denkt, liegt absolut richtig. Für viele ist dieses Bild - das Original, gezeichnet mit Tinte auf blauem Grund, hängt in der Albertina zu Wien - der Kunst gewordene Gedanke an Gott schlechthin. Heute speichert man das Andachtsbild aufs Handy, nachdem der dafür ideale Bildschirmschoner schon wieder ausgedient hat.

In opulenter Weise provoziert die katholische Kirche seit jeher Andacht durch Architektur und deren Innenauskleidung. Eine Emotion, die auch jene empfinden können, die nicht konkret an einen Gott glauben. Auch sie kennen solch "andächtiges Staunen", wenn sie angesichts der Kathedrale "Notre Dame" von Amiens nur die grandiose Architektur dieses gotischen Bauwerks verinnerlichen, in das die gleichnamige Kirche von Paris viermal hineinpassen würde.

Vor allem in Zeiten des Barock und des Rokoko gewinnt das Innere einer Kirche als Ergriffenheitsauslöser an Bedeutung. Man muss dazu nicht unbedingt nach Rom reisen, um sich der Aura eines Bildes hinzugeben, etwa "der Verzückung der Heiligen Theresa" von Gian Lorenzo Bernini. Es reicht ein Wochenendausflug von der Münchner Asamkirche über Kloster Schäftlarn bis zur Wieskirche, um ob der Kraft und Gewalt barocker Opulenz in kontemplative Versenkung zu geraten. In der Psychologie nennt man diese Art von Wahrnehmung "amodale Perzeption", was bedeutet, dass man ein Werk in seiner Gesamtheit in sich aufnimmt, auch wenn man, in diesem Fall wegen der Fülle des Angebots, lediglich Teile davon "ins Auge fassen" kann.

Solch intensive Gelegenheiten zur Andacht bietet auch die Moderne. In Münchens Herz-Jesu-Kirche kann man das ganz wunderbar ausprobieren. Oder, wenn man gerade in Houston, Texas, weilt, in der dortigen Rothko-Chapel. Deren Inneres hat 1971 Mark Rothko, der große Künstler des abstrakten Expressionismus, mit seinen flächigen Farbfeld-Bildern ausgestaltet. Der Besucher betritt den Raum und befindet sich in einer sich ins Zeitfreie auflösenden Gegenwart.

Trotzdem ist die Andacht nicht allein den Kirchen und ihren Bildern vorbehalten. Das zeigt sich auch in der Literatur, wo etwa der Dichter Paul Celan in einem Gedicht schrecklichen Gedenkens, das schon seine "Todesfuge" beherrscht, die Andacht mit dem Schlag des Gewehrkolbens verbindet. Und wo Goethe, in meisterliche Weise, deren Wesen als sich langsam ausbreitendes Gefühl beschreibt. Er spricht in seinem großen Gedicht "Die Geheimnisse" von "der Andacht, die in seinem Herzen quillt . . ."

Denn es gehört zur Macht dieses Gefühls, dass es raumgreifend in einem wächst. Auch jenseits von Frömmigkeit und Kirche, oft ganz privat und unverhofft. Sei es der Gedanke an den Freund, der, vor Jahren verstorben, langsam wieder lebendig wird dank der Erinnerung, wie er einem die Welt erklären konnte. Oder sei es auch nur der Blick von unten auf die Watzmann-Ostwand, diesen gewaltigen Fels, den zu bezwingen nicht nur Kraft und Können verlangt, sondern auch Demut.

Andacht ist also frei, losgelöst vom Krippenkind und dessen Schicksal. Und doch auch mit ihm verbunden, weil solche Verbundenheit zu eben dieser Freiheit gehört. Der Dichter Friedrich Rückert, ein umfassend gebildeter Mann aus Franken, brachte es auf den Punkt: "Mit Andacht lies, und dich wird jedes Buch erbauen. Mit Andacht schau, und du wirst lauter Wunder schauen. Mit Andacht sprich nur, und man hört dir zu andächtig. Mit Andacht bist du stark, und ohn' Andacht ohnmächtig."

Und da wäre dann noch der Andachtsjodler. Erstmals gesungen Ende des 18. Jahrhunderts in Sterzing. Drei Stimmen und drei Harmonien nur. Und doch spürt man: So schön und tief kann Andacht sein. Zur Not auch ohne Krippe, Hirten und Heilige Drei Könige.

Touch me, Kunsthandwerk-Schüler gestalten Andachtsbilder, bis 6. Januar 2020, Karmeliterkirche, Karmeliterstraße 1

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