Essay:Formen des Zorns

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Licht, Luft und Randale: Welche Verantwortung tragen Architekten und Stadtplaner für die exzessive Gewalt in den französischen Vorstädten?

Gerhard Matzig

Die Berichte über die Unruhen in der Banlieue werden von vier Bildmotiven dominiert. Erstens: das brennende Auto. Zweitens: der Jugendliche mit dem Stein in der einen Hand. Drittens: der Polizist mit dem Schlagstock in der anderen Hand. Und viertens: das stockwerksweise sich in den rußigen Himmel perpetuierende, hässliche, aus Beton, Satellitenschüsseln, Zorn und Drogen zusammengeschraubte Haus.

Das Haus ist ein Hausgerippe. Ein Stahlbetonskelett, dessen Wohnungen in den Fernsehnachrichten wirken, als seien sie nur die mit belanglosem Müll vollgestopften Schubladen in einem Regal, das schon vor langer Zeit im Keller der Gesellschaft vergessen wurde. Architektur- und Stadtkulissen beherrschen die mediale Bilderflut, die sich kein Bühnenbildner passender ausdenken könnte, um die geistige Verwahrlosung unserer Zeit räumlich zu inszenieren.

Kein Erker, kein Risalit, kein Pilaster, kein Stuck oder Ornament: Nichts aus dem Fundus der Bautradition tauchte bisher in den ubiquitären Sondersendungen auf. Aber auch kein Zubehör zukünftiger Architektur: kein strahlendes Stahlblechweiß, keine Medienfassaden und keine raumhohen Glas-Feiern der Transparenz.

Es sind ausschließlich die allerbilligsten und einfältigsten Form- und Versatzstücke der internationalen Nachkriegsmoderne, die jetzt den eindrucksvollen Hintergrund für Wut und Wahnsinn abgeben: vorgehängte Balkone, endlose Klingelschilder, schmucklose Lochfassaden, dünnste Fassadenapplikationen, raumlose Eingänge, flache Dächer und sockellose Kuben.

Es sind orthogonal organisierte Punkthochhäuser, die wie halbverfaulte Zahnstummel herumstehen. Es sind Supermarktgeschwüre, die sich breiig in die nicht vorhandenen Stadtzentren ergießen. Und es sind trübsinnige, am jämmerlichen Raster der Wohnraumspekulation ausgerichtete Zeilenbauten aus Waschbeton. Überall dort, wo es jetzt brennt.

Der Imageschaden für jene qualitätsvollen und ästhetischen Architekturentwürfe der Gegenwart, die - auch nur entfernt - an die heruntergewohnten Silo-Bilder aus Frankreich erinnern könnten, ist nicht abzusehen. Selten zuvor wurde das Formvokabular der Moderne, deren Nachfahren in der Banlieue größtenteils aus den sechziger und siebziger Jahren stammen, so gründlich diskreditiert.

Da genügt ein Blick auf jenes planerische "Abstandsgrün", das uns Le Corbusier, der Mitte der zwanziger Jahre die Altstadt von Paris in die Luft jagen wollte, um seinen "Plan Voisin" zu realisieren, noch als elegante Parklandschaft versprochen hatte, aus der sich in "majestätischer Eleganz die Wohntürme der Zukunft" erheben würden. Jetzt schwelen dort, wo der Park zum Parkplatz mutierte, nur die Autowracks vom Vortag.

Soll und Habitat

"Erst bauen Menschen Häuser", so liest sich das bei Albert Schweitzer, "dann bauen Häuser Menschen." Unbestritten: Räume prägen uns. Der Mensch lebt nicht nur vom garantierten Arbeitsplatz allein, vom sicheren Zugang zu Schulen und der Anerkennung in der Gemeinschaft. Es ist notwendigerweise immer der Raum, in dem sich letztlich Soll und Haben des Lebens konstituieren.

Auch wenn Premierminister Dominique de Villepin die geplanten sozial- und erziehungspolitischen Hilfsaktionen in die Tat umsetzt: Sichtbar werden die Folgen erst dann, wenn sie auch räumlich greifbar werden. Überall auf der Welt lässt sich der Zustand der Gesellschaft aus dem Stadtbild herauslesen. Häuser sind nichts anderes als Lebensbedingungen hinter Fenstern. Nur steht nicht immer eine Kamera vor dem Fenster.

Auch deshalb sind die suburbanen Räume von Paris, in Argenteuil, St.Denis oder Noisy-le-Sec, oder abseits davon und doch genauso im Zentrum der Ereignisse, in Lyon, Blois, Colmar oder Rouen, die idealen Kulissen für die Frage nach der aktuellen Verantwortung von Stadtplanung und Architektur. Was war zuerst da? Die gebauten Brutstätten der Gewalt? Oder die Gewalt, die aus Wohnungen so etwas wie Bandenlager, aus Häusern Ghettos und aus Stadtvierteln Kriegszonen macht?

Brennende Autos, prügelnde Polizisten und randalierende Jugendliche werden wieder aus unserem Blickfeld verschwinden - vorerst. Aber eines wird präsent bleiben: die Häuser. Sie sind die Mahnmale dieser Revolte.

Dabei geht es nicht nur um Identitäten und Integration, für die sich Politik und Soziologie zu interessieren haben, sondern auch um jenen Mangel an identitätsstiftender Architektur, für die auch Planer verantwortlich sind. "Architektur insgesamt", so Bloch, "ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat." Die Frage nach den Ursachen der Randale ist auch die Frage nach dem Phänomen "Heimat".

Die Architektur als Produktionsversuch derselben ist also nicht nur symbolisch ins Bild der Kämpfe geraten. Sie ist nicht die Staffage der Debatte - sie ist ein Teil davon. Suburbia, den Vororten wie den Zwischenstädten, fehlt es vor allem an der Differenz der Wohnformen und -größen, an den signifikant gestalteten Übergängen zwischen privaten, halböffentlichen und öffentlichen Räumen. Die unhierarchisch aneinander geklebten, mit kleinsten Normräumen ausgestatteten Wohnungen versagen sich genauso wie die indifferenten Außenräume jener "Kultur des Unterschieds" (Richard Sennett), durch die Zivilität erst zustande kommt.

Zwar gibt es keine monokausalen Zusammenhänge von Städtebau und Kriminalität. Unstrittig, und von vielen Studien bestätigt, ist aber, "dass Architektur und Wohnungswesen eine Mitverantwortung an der Förderung von Gewaltproblemen haben". Das zielt auf ein räumliches Umfeld, das von den Bewohnern nicht als "eigener Lebensraum" identifiziert und verantwortet wird. Wenn die Täter in Frankreich Kindergärten und Schulen anzünden, dann sind sie nicht nur "Gesindel" (Sarkozy), sie haben auch gar nicht begriffen, dass sie ihre eigenen Gebäude abfackeln.

Bauchschmerzen von Paris

Noch sind es vor allem Autos, die auf der Bühne brennen. Wenn sich die auch räumlich begründeten Identifikations-Probleme der großen, bald schon ins Gigantische wuchernden Stadtgesellschaften nicht lösen lassen, dann wird eines Tages auch die Bühne selbst brennen. Auch Waschbeton ist auf Dauer nicht feuerfest.

Das werden dann auch deutsche Städte erfahren, die jetzt noch beruhigend darauf verweisen, dass in ihnen andere Verhältnisse herrschen, andere Kulturen und eine andere Integrationspolitik. Seltsam nur: Die Stadtansicht von Köln-Chorweiler gleicht bis auf das letzte Stückchen Fugenkitt jener aus französischen Orten, die jetzt ständig im Fernsehen zu sehen sind. Räumlich verursachte Integrationsprobleme sind durchaus vergleichbar in einer Welt standardisierter Wohnmaschinen.

Das Problem hat einen Namen: Massenwohnungsbau, der so billig wie möglich sein muss. Es ist seit vielen Jahrzehnten, ja Jahrhunderten ungelöst. Schon der Sturm auf die Bastille, der jetzt so gerne zitiert wird und am 14. Juli 1789 zum Symbol der Französischen Revolution wurde, speiste sich nicht zuletzt aus der drangvollen Realität der Pariser Elendsviertel, die - unberührt auch von der polizeilich motivierten Stadtbaukunst Haussmanns - auch später die sozialphysiognomischen Tableaus eines Honoré de Balzac anreicherten.

In St. Denis haben solche Viertel nur eine architektonische Transformation erfahren. Geändert hat sich an der eigentlichen Problematik auch unter dem Flachdach und hinter der Betonwand nichts. Denn die Architektur ist nicht nur zuständig für "mehr Licht, mehr Luft" (Gropius und andere), sondern auch für die räumliche Begründung von Identitäten.

Man muss sich dieses totale Scheitern der entsprechenden Stadtraum-Utopien eingestehen. Unter anderem auch das Scheitern der "funktionalen Stadt", die sich der auf dem CIAM-Kongress (Congrès Internationaux d'Architecture Moderne, 1933) verabschiedeten "Charta von Athen" verdankt. Sie besteht noch immer aus spezifischen, streng getrennten Räumen für Arbeit, Wohnen und Verkehr und übersieht, dass sich der kultur- und gemeinschaftsstiftende Raum gerade aus den Überschneidungen dieser zu "Funktionszonen" reduzierten Lebensbereiche ergibt.

Wobei sich Paris damit hervorgetan hat, das System räumlicher Trennung nach dem Krieg durch etliche Stadtvisionen noch um eine weitere Kategorie zu erweitern: um das außerstädtische Gehege für das Fremde an sich. Das kann Armut sein. Aber auch eine andere Kultur.

Stadtplaner haben an solchen Gehegen mitgebaut. Die Moderne, die immer nur den "besseren Menschen durch eine bessere Architektur" im Sinn hatte, mag uns glänzende Architekturen errichtet haben. Aber stadträumlich ist sie gescheitert und durchaus mitverantwortlich für die Kriege, die in ihren Räumen nicht nur wie auf Bühnen geführt werden.

"Welcher junge Architekt", schrieb der Schriftsteller Julien Green "wird uns eine Stadt der Zukunft geben, eine Stadt, die ebenso verführerisch auf die Generation der Zukunft wirken wird, wie das aus Jahrhunderten entstandene Paris uns zu verzaubern vermochte? Ist es zu viel, von einem Visionär zu träumen, der ein Poet des Raumes wäre?" Städte der Zukunft sind in Paris und Umgebung zu besichtigen: Sie gehen gerade in Rauch auf.

(SZ vom 12.11.2005)

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