Das kurze zwanzigste Jahrhundert beginnt mit einem großen Stück Kriminalliteratur. Und obgleich die Stadt Personville, die uns in den Augen ihrer Bewohner als Poisonville begegnet, ein fiktiver Ort ist, bleibt sie als Schauplatz im Gedächtnis, der die dominierenden Bilder jener Zeit bündelt: die Verschränkung von politischer und wirtschaftlicher Macht mit dem Verbrechen, das Ende der Gewerkschaften als unabhängiger Kraft und die Bedeutung des Mordes als Mittel der Einflussnahme. Dashiell Hammett hat in seinem ersten Roman "Red Harvest" 1929 dem Genre den Weg gewiesen. Die Moderne mit ihrer ausgeprägten Idee vom Nationalismus und den bewachten Grenzen in ihrer Folge war eben erst, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, in ein neues Stadium eingetreten.
Hammett hat seine Stadt - "a town of 40 000" - am Ende der Welt angesiedelt, an einer selbst geschaffenen frontier, und stellte sie damit auf Augenhöhe mit den Westernstädten der amerikanischen Mythologie. Eine Stadt zu entwerfen, die man auf der Landkarte vergebens suchen würde, ihr zudem einige Züge zu verleihen, die auf einen größeren Ort verweisen, das war Hammetts Kniff, Personville kenntlich zu machen. Sein Schauplatz diente ihm dazu, das Allgemeine und Gültige im weißen amerikanischen Traum herauszustellen, und damit dessen Ende. Er öffnete den Blick für die Tatsache, dass jeder Ort in der Welt mit den Verbrechen konfrontiert wird, die er verdient.
James McClure hat von der Apartheid in Südafrika erzählt, ohne sie beim Namen zu nennen
Nationales Interesse und Profitgier töten Menschen in Personville. Das kurze Aufatmen, das mit dem Ende des großen Krieges verbunden war, ist schnell zu Ende. Mit "Red Harvest" liefert Hammett die Hohlform für die moderne Kriminalliteratur. Das Verbrechen hat einen Ort, einen Ursprung, hat Wurzeln, kann so nur hier und nicht dort stattfinden. Verbrechen erzählen von einem Raum und von der Gewalt, die ihn dominiert. Davon handelt die Kriminalliteratur.
Südafrikanische Erzählmuster sind spätestens seit James McClure Bestandteil der internationalen Kriminalliteratur. Auch McClures Schauplatz, Trekkersburg, ist fiktiv, allerdings deutlich erkennbar als ein Abbild von Pietermaritzburg, der einst wichtigsten Stadt in der heutigen Provinz KwaZulu-Natal. Fiese Niedertracht und rassistisches Misstrauen speisen die Handlungsmotive der klassisch angelegten Cop-Romane, mit denen McClure seit den 1960ern den Alltag der Apartheid auf ihrem Höhepunkt seziert.
Das subversive Element steckt im Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten. Der weiße Lieutenant und der "Bantu Sergeant" unterhalten professionell bessere Beziehungen, als es die Politik vorgesehen hat. McClure nennt nicht nur Pietermaritzburg nicht beim Namen, auch die Apartheid kommt bei ihm nicht als Begriff vor. Der Autor setzt ganz unten an und beschreibt die Dinge en détail, das ist seine Art, den nicht genannten Ort kenntlich zu machen und das System zu attackieren, ohne seinen Begriff aufzurufen.
Moses, der Protagonist meines eigenen Romans "Die Mauer", ist Teil der afrikanischen Mehrheitsgesellschaft Südafrikas. Das schützt ihn nicht vor Benachteiligung im Alltag, nicht nur ist er ständig konfrontiert mit dem Hass, den die Weißen nach wie vor gegen schwarze junge Männer pflegen, auch die Institutionen von der Polizei bis zur Passbehörde geraten immer wieder in den Verdacht, Weiße mit mehr Respekt zu behandeln als Schwarze. Und es ist im Roman nur ein einziger Schritt, der den Status von Moses verändert. Er betritt eine Gated Community, sie ist nicht mehr als eine weitere Siedlung in einem mehrheitlich von Weißen bewohnten Stadtteil. Doch die Mauer, die um die Siedlung herum errichtet worden ist, macht den Unterschied. Moses wird von einer Sekunde auf die nächste zum Angehörigen einer Minderheit. Denn auch die Gated Community wird vornehmlich von Weißen bewohnt.
"The Pines", so der Name der Gated Community in "Die Mauer", ist ebenfalls ein fiktiver Ort. Er liegt zwischen den beiden Stadtteilen Abbotsford und Dorchester Heights im Hinterland der südafrikanischen Ostküstenstadt East London. Der Nahoon River trennt die Vororte, einer mit Läden und Schnellstraßenanschluss, der andere ruhig. Die Gegend am Nahoon ist ein guter Ort für eine innenstadtnahe Gated Community, in der Realität aber eher unerschlossenes Gelände. Die Bevölkerung beider Stadtteile ist nach hiesigen Maßstäben nicht mit dem Begriff Mittelklasse und einer durchaus hinfälligen Idee der Mitte zu umreißen. Vielleicht könnte man sagen, sie gehören nicht zu den reichsten fünf Prozent des Landes, eher zu jenen zehn Prozent, die darauf folgen.
Es gibt viele Gated Communities in Südafrika, sie sind ideologisch ein Projekt der unmittelbaren Post-Apartheid-Ära. Die Apartheid, die Trennung der Menschen, ging ja immer mit der Trennung des Raumes einher, und durch die Aufhebung dieser Trennung duften die ehemals Entrechteten nun alle Ecken des Landes betreten, ohne die demütigenden Pässe mit sich zu tragen, die ihnen der weiße Boss ausgestellt hatte.
"Klar, geh nur rein, die schießen sofort auf dich", sagt der Südafrikaner in "Die Mauer"
Diese Vorstellung weckte das nackte Grauen in jenen, die bis dahin aktiv entrechtet hatten. So wurden Mauern um Siedlungen gezogen, erst niedrige, dann hohe, die später mit elektrischem Strom versehen wurden. Die Idee hat sich ins Heute gerettet und mit der Zeit stark verändert. In Johannesburg haben vor einigen Jahren zwei Firmen bislang nicht realisierte Projekte vorgestellt, die sie als "a city of its own" bezeichneten. Das sind riesige Einheiten, die Läden und Schulen, Kinderkrippen, Büros und sogar Universitäts-Institute beherbergen sollten. Da müssen sie gar nicht mehr raus, lautet die Logik, der solche Projekte folgen.
Ein Schlüsselereignis stand für mich am Beginn des Romans "Die Mauer". Gemeinsam mit dem Künstler Guy Woueté aus Kamerun und dem südafrikanischen Autor Khanyo Mjamba hatte ich einen Architekturspaziergang durch mein Viertel in East London, the Quigney, unternommen. Das mag im Jahr 2012 gewesen sein, vielleicht auch 2013. The Quigney war ehemals eine Gegend, in der weiße Bahn- und Hafenarbeiter mit ihren Familien lebten, also mittelarme Leute für damalige Verhältnisse. Die Häuser dort sind in der Regel um die sechzig Quadratmeter groß, von einem doppelt so großen Garten umgeben. Viele von ihnen sind in keinem guten Zustand und etliche eines zweiten Blicks nicht wert. Manche aber schon.
Guy Woueté lugte mit der Nase über eine Mauer, betrachtete eines der Häuser und sagte etwas wie: "Da würd ich gern näher rangehen." Khanyo, der neben mir stand, wir waren einen, zwei Meter von Guy entfernt, erwiderte: "Yeah, sure, you go inside and they shoot at you immediately." Der Südafrikaner hatte dem Kameruner, der in Frankreich lebt, die schärfere Wahrnehmung voraus: Klar, geh nur rein, die schießen sofort auf dich. Diese südafrikanische Sensibilität für Gefahren, die dem schwarzen männlichen Körper drohen, weil ihm vom Gegenüber Gefährlichkeit zugeschrieben wird, war der Schlüsselmoment, der sich mir eingebrannt hat.
Anders als Moses in "Die Mauer" ist Kodjo, der Protagonist in meinem neuen Roman "Illegal", der in Berlin spielt, tatsächlich ein Außenseiter. Seine Hautfarbe bestimmt den Rang, den die Gesellschaft ihm zugesteht. Als Person ohne gültigen Aufenthaltstitel steht er unter doppeltem Druck. Er fällt als Mensch mit schwarzer Hautfarbe sofort auf und ist dadurch besonders gefährdet. Seine Hautfarbe macht ihn zum Anderen, der als solcher wahrgenommen und der Kontrolle unterworfen wird.
Aus meinem Südafrika-Roman "Die Mauer" habe ich das Motiv des davonrennenden jungen Schwarzen übernommen und in ein anderes Setting, das fotorealistische Berlin der Gegenwart, übertragen. Das ist nicht zuletzt meinem Blick auf die Stadt geschuldet. Nach Jahren in Südafrika noch relativer Neuling in Berlin, halte ich mich an das, was ich sehe. Kriminalliteratur aus Deutschland muss heute von den Trennungen erzählen, die den öffentlichen Raum durchziehen, von den realen Trennungen und den erträumten, die nie real werden dürfen.
Was geschieht, wenn das Leben im Mainstream der Gesellschaft aus den Fugen gerät?
Machen wir uns nichts vor. Die Schatten des Nationalismus, mit denen Dashiell Hammett vor neunzig Jahren rang, sind denen nicht unähnlich, die uns heute frösteln lassen. Noch immer sind die Bilder, die wir heute bearbeiten, mit Ideen von nationaler Identität und bewachten Grenzen verbunden. Wie das die Gesellschaft prägt, das allgemeine Gegeneinander, die Konflikte und ihre Schauplätze, ist das Thema zeitgenössischer Genreliteratur.
Deutschland ist voller Bilder und Sujets für große Genreliteratur. Die Ausgeschlossenen - ausgeschlossen von Bildung und Besitz, gefangen in Hierarchien - und ihr Leben sind der Stoff für die Dramen dieser Zeit, ebenso die Arbeit und ihr Wert, und die Angst der Mitte. Die Ausgeschlossenen sind nicht zufällig auch jene, die den Ideen von gestern hinterherlaufen, als wären diese der Anfang vom Ende ihrer Probleme. Donald E. Westlake hat 1997 in "The Ax" mit großer Lust am Untergang des Normalen demonstriert, was geschieht, wenn ein Leben im Mainstream der Gesellschaft aus den Fugen gerät. Du verlierst deinen Job und denkst, das ist eine Katastrophe? Du bist die Katastrophe für alle, denen du begegnest. Die moderne Kriminalliteratur muss nur den Blutspuren dieser Tage folgen. Ausgelegt sind sie.