Essay:Die Abkehr vom Vorbild

Essay: Großes Versprechen: Demonstrantin mit tschechischer Flagge bei den Protestmärschen zum 30. Jahrestag der "samtenen Revolution".

Großes Versprechen: Demonstrantin mit tschechischer Flagge bei den Protestmärschen zum 30. Jahrestag der "samtenen Revolution".

(Foto: Petr David Josek/AP)

Auch in der Abenddämmerung dreht sich alles um den Westen - Ivan Krastev und Stephen Holmes rechnen mit liberalen Gewissheiten ab.

Von Jens Bisky

Manches spricht für die Vermutung, wir erlebten eine Zeitenwende. Dass alles so weitergehen und dabei besser werden könne, glauben nur wenige. Die Kaskade der Erschütterungen seit der Finanz-, Banken- und Euro-Krise, der Aufstieg autoritär agierender Politiker überall auf der Welt, das Erstarken populistischer Bewegungen, die Unfähigkeit von Nato und EU, angesichts des Krieges in Syrien wie massenhafter Migration strategisch vernünftig und im Einklang mit den eigenen Verlautbarungen zu handeln, all das hat das Misstrauen genährt, die liberalen Demokratien hätten ihre besten Tage möglicherweise hinter sich. Dieses Misstrauen prägt Gegenwartsdiagnosen und Zeitgeschichtsschreibung. Aber nur selten hat es das Bild der Jahre seit 1989 so durchgehend bestimmt wie in dem geschichtsphilosophischen Essay "Das Licht, das erlosch" von Ivan Krastev und Stephen Holmes. Ihre "Abrechnung", so der deutsche Untertitel, ist in den besten Passagen eine liberale Liberalismuskritik und in den schwächeren eine Konstruktion von Zwangsläufigkeiten, die weite Teile der Wirklichkeit verschattet. Es ist ein großes Buch voller glänzender Formulierungen und Funde, es ist ein Ärgernis voller Verkürzungen, reich an blinden Flecken.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev ist den deutschen Lesern seit seinem Essay "Europadämmerung" (Suhrkamp, 2017) bekannt, er arbeitet in Wien, am Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Der Rechtswissenschaftler Stephen Holmes lehrt an der New York University. Sie wollen die politische Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges so darstellen, dass zugleich die Erfolge der "populistischen Konterrevolution" in Ost- und Mitteleuropa, die Politik Wladimir Putins und die "radikal transformative politische Gestalt" Donald Trump verstanden werden können. Dazu skizzieren sie die Grundrisse eines Zeitalters der Nachahmung, das 1989 begann und nun mit Xi Jinping und der Weltmacht China zu Ende geht.

Die liberale Ordnung barg ein Versprechen. Indem die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, die 1989/90 die Parteidiktaturen abschüttelten, sich dem "Mainstream der westlichen Moderne" anschlossen, würden sie, so die Hoffnung, endlich bekommen können, "was die Westeuropäer seit Langem besaßen". Also machten sie sich auf den Weg der Nachahmung.

Die "Regime-Nachahmung", so Krastev und Holmes, hatte vier entscheidende Momente. Die moralische Überlegenheit des Nachgeahmten stand fest, wurde anerkannt. Das nachgeahmte politische Modell behauptete, "alle existenzfähigen Alternativen beseitigt zu haben". Man erwartete bedingungslose Nachahmung, ohne Rücksicht auf lokale Traditionen. Die Länder des Westens maßten sich an, "den Fortschritt der nachahmenden Länder dauerhaft beobachten, überwachen und bewerten zu dürfen".

Die Volksrepublik China fordert, wo sie Geschäfte macht, keine ideologische Bekehrung

Die Nachahmung hatte unbeabsichtigte Folgen. Ein Gefühl der Unzulänglichkeit, der Zweitklassigkeit griff um sich. Zugleich verloren die Länder Ost- und Mitteleuropas Millionen junger, halbwegs gut ausgebildeter Menschen. Die Imitation brachte Abwanderung, soziale Ungleichheit und Schwulenrechte. Den Unmut darüber griffen Populisten auf. Sie wandten sich gegen die Übermacht des Vorbilds, versprachen, sich von den Knien zu erheben. Krastev und Holmes räumen ein, nur einen Aspekt herauszugreifen, ein unvollständiges Bild zu zeichnen. Gegen das Gerede von illiberalen Traditionen Osteuropas setzen sie die These, dass der Unmut, etwa in Polen und Ungarn, eine Reaktion darauf sei, wie "der (aufgezwungene) alternativlose Sowjetkommunismus durch den (erwünschten) alternativlosen westlichen Liberalismus ersetzt wurde". Sie zeigen dann, wie in Russland nach Jahren der Simulation westlicher Vorbilder die Verhöhnung des Westens begann. Man spiegelte ihn, etwa durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim oder durch Einmischung in die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Und plötzlich begann man auch in den USA, sich als "missbrauchtes Opfer der Bewunderer und Nachahmer wahrzunehmen".

Die Volksrepublik China, so die überzeugende Pointe für das Ende der Nachahmungsära, wolle - anders als der "liberale Westen" - nicht nachgeahmt werden, fordere, wo sie Geschäfte mache, keine ideologische Bekehrung. China wolle gewiss "das Sagen haben und vermutlich andere ausbeuten", aber auf keinen Fall "Leuchtfeuer oder Vorbild sein, denn anders als Amerika in der Blütezeit der liberalen Hegemonie hat China keinen Grund anzunehmen, dass eine von Kopien seiner selbst bevölkerte Welt den Interessen und Plänen Chinas förderlich wäre". Bereits in der "Blütezeit der liberalen Hegemonie" glaubte ein gewisser Donald Trump, die Vereinigten Staaten agierten zu schwach. Im März 1990 kommentierte er in einem Playboy-Interview die Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking so: "Als die Studenten auf den Tiananmen-Platz strömten, hätte die chinesische Regierung es fast vermasselt. Doch dann waren sie grausam, sie waren schrecklich, aber sie haben den Aufstand mit Stärke niedergeschlagen. Das zeigt die Macht der Stärke. Unser Land wird gerade als schwach wahrgenommen ... als ein Land, auf das der Rest der Welt spuckt." Drei Jahrzehnte später sorgt der Präsident Trump dafür, dass Amerika seine Ausnahmerolle, Vorbild und Leuchtfeuer zu sein, ablegt, um wieder stark und groß zu werden. Auch die Nachgeahmten, so eine der Schlussvolten des Buches, leiden. Der "instinktiv illiberale" Trump reagiert darauf, indem er den Anspruch der liberalen Demokratien, Vorbild zu sein, als Heuchelei entlarvt - wie aus anderen Gründen Liberale und Linke es seit Jahrzehnten routiniert tun. Die Zukunft, wie sie den Illiberalen vorschwebt, ist eine Welt, in der Politik normativ entbunden, von moralischen Ansprüchen befreit ist, in der Stärke zählt, es jenseits von Gruppenegoismen und zusammenfabulierten Identitäten nichts Verbindendes existiert, in der Kampf und Deal die Formen des Umgangs sind. Ebenso, heißt es vielfach, sehe die liberale Ordnung aus, schaue man hinter die propagandistische Fassade. So seien Liberale nicht in der Lage, die Interessen ihrer Landsleute zu erkennen und ernst zu nehmen. Der liberale Universalismus zerstöre die Solidarität. Krastev und Holmes fassen diese verbreitete These in einem grandiosen Aphorismus über die Wahrnehmung der liberalen Sünden zusammen: "Wenn jeder dein Bruder ist, bist du ein Einzelkind."

Hat Deutschland mit Portugal oder Italien mehr gemein als mit dem Nachbarland Polen?

Krastev und Holmes stützen sich überwiegend auf Politikerreden, Filme, Romane, ein wenig Migrationsstatistik. Ihre Skizze des Nachahmungszeitalters wirkt suggestiv, über Klippen der Argumentation helfen Aphorismen, geistreiche Formulierungen hinweg. Man liest das gebannt, findet erst einmal fast alles plausibel. Dennoch: Dieses Erklärungsmodell ist unnötig grob. Das beginnt damit, dass hier die olle Kamelle "der Westen" wieder aufgenommen wird. Was soll das jenseits der Heinrich-August-Winkler'schen Konstruktion von Echnaton bis Adenauer sein? Ob Deutschland mit Italien oder Portugal mehr gemein hat als mit dem Nachbarn Polen, wäre einmal ernsthaft zu diskutieren. Die Wahrnehmungsschablonen des Kalten Krieges haben noch nie getaugt, die Wirklichkeit zu beschreiben. Und 1990 war "der Westen" gewiss kein Hort der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, der Rechte für Lesben, Schwule, Transmenschen. Über Migranten äußerten sich die Politiker des ach so liberalen Westens damals gern ebenso abfällig wie heute Orbán oder Trump. Vor allem verstört, dass Krastev und Holmes den Umbruchgesellschaften in Ost- und Mitteleuropa eine Homogenität zuschreiben, die es dort nach der Explosion der Möglichkeiten schlicht nicht gegeben hat. Sie haben kein Sensorium für die Tausch- und Basarwirtschaft, die Millionen den Übergang in die neue Zeit ermöglichte, kein Interesse an den urbanen Eliten in Warschau, Belgrad, Prag, Budapest.

Dass mit Marine Le Pen, Christoph Blocher, Pim Fortuyn starke rechtspopulistische Kräfte in Kernländern des gar nicht so guten, alten Westens auftraten, spielt für die Analyse keine Rolle. Solche Ausblendungen sind Taschenspielertricks für das westliche Publikum. Dass der vermeintliche Niedergang der USA am Beispiel der Autoindustrie erzählt wird, ohne wenigstens Facebook, Google, Amazon und die Vermögensverwaltung Blackrock zu erwähnen, weckt den Verdacht, dass die Autoren die Machtverhältnisse eher undeutlich wahrnehmen. Vor allem aber dreht sich eben wieder einmal alles um "den Westen". Er bleibt, noch im Niedergang, Maßstab und Adressat. Wer einst Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte" zustimmend gelesen hat, der kauft jetzt "Das Licht, das erlosch".

Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. Aus dem Englischen von Karin Schuler. Ullstein Verlag, Berlin 2019. 368 Seiten, 26 Euro.

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