Süddeutsche Zeitung

Essay:Das Sekret des Ich

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Lektüre und Leben, ein Verächter und ein Kenner. Diese schmalen Bücher über Marcel Proust lohnen die Doppellektüre: Matthias Zschokke wütet gegen den Snobismus, Andreas Isenschmid seziert Leben und Werk.

Von Lothar Müller

Manchmal steckt in zwei Büchern, die sich auf den ersten Blick spinnefeind zu sein scheinen, eine lohnende Doppellektüre. Hier hat das eine ein bekennender Proust-Verächter geschrieben, das andere ein leidenschaftlicher Proust-Bewunderer.

Der Schweizer Schriftsteller Matthias Zschokke schildert in "Ein Sommer mit Proust", wie sein Versuch, die eigene Aversion gegen diesen Autor durch die vollständige Lektüre seines Hauptwerks "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" auf die Probe zu stellen, ihn trotz gelegentlicher Anflüge von Begeisterung nur immer tiefer in die Abneigung hineintrieb: "je länger ich lese, desto unangenehmer sticht mir das Parfum in die Nase, mit dem dieser Scharwenzler seine Sätze einnebelt. ... Sein Odeur dringt dermaßen penetrant durch sämtliche Zeilen hindurch, egal welchen Band egal auf welcher Seite ich aufschlage: Nach dem zweiten Halbsatz beginnt mich inzwischen ein Brechreiz zu würgen. So ergeht es wohl Alkoholkranken, wenn ein Tropfen Ethanol in ihr Blut gelangt? Ein Tropfen Proust in mein System, und mir bricht der Schweiß aus und ich beginne nach Luft zu schnappen. Was war das wohl bloß für ein bestialisches Sekret, das in seinen Drüsen produziert wurde und mit dem er seine Sätze besprühte?"

Der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid könnte an dieser Stelle weiterhelfen. Er hat sich vor einigen Jahren in dem Essay "Ansichten eines stubenhockerischen Proustianers" zu seiner Proust-Obsession bekannt und nun in dem reich bebilderten biografischen Essay "Marcel Proust" den Scharnierstellen nachgespürt, an denen bei diesem Autor das Leben und das Schreiben, das empirische Ich und das "Ich" jenes Marcel, der als Erzähler der "Suche nach der verlorenen Zeit" auftritt, ineinandergreifen.

Das ist eine heikle Aufgabe. Zwar hat Marcel Proust in diesem großen Romanwerk mit der Gesellschaft seiner Epoche und ihren Wissensbeständen seinen eigenen Lebensstoff in ein Kunstwerk transformiert, aber er hat zugleich eine strenge Grenzlinie zwischen dem empirischen Ich eines Autors und dem Ich gezogen, das in dem Text, den es aus sich herausspinnt, anwesend ist.

"Ich ertrage die gesellschaftlich affirmative Haltung des Erzählers nicht ..."

"Die ,Recherche' ist in ihren tiefsten Schichten ein fortwährendes Gespräch mit der Mutter", schreibt Andreas Isenschmid neben die 1870 entstandene Porträtfotografie von Jeanne Proust, der Mutter des Autors. Das klingt nach Verlängerung des Lebens in die Literatur. Aber das Gespräch fand unter den Bedingungen statt, die von der Kunst gesetzt waren. Sehr schön zeigt Isenschmid, dass die berühmten Kindheitsschilderungen der "Recherche" und vor allem das Haus im "Combray" des Romans aus Verfahren der Collage entstanden sind, mit denen Proust die Erinnerungen an sein Geburtshaus in Auteuil nach Illiers verlegt hat, das heute "Illiers-Combray" heißt. Dort, im Herkunftsort des Vaters, im Haus des Onkels, befindet sich heute ein Proust-Museum, in dem die Besucher die Treppe wiederzufinden glauben, die im Roman an manchen Abenden das Kind Marcel von seiner Mutter trennt, die unten mit Gästen diniert.

Es ist kein geringfügiges Detail, dass für Proust das Sommerhaus seines Großonkels mütterlicherseits, Louis Weil, Zentrum der Kindheitserinnerungen war. Dieses Haus in Auteuil existierte längst nicht mehr, als er seinen Roman schrieb, und es stand in einer ganz anderen Welt als das Haus im kleinbürgerlichen, katholischen Illiers. Es stand in der Welt des assimilierten jüdischen Bürgertums, dem seine Mutter entstammte, in der Welt der Lektüre, der Causerien und Salons.

Kurz, es war, aus der Sicht des gesamten Romans, die Keimzelle jener Welt, die vor allem den Brechreiz des Proust-Verächters Zschokke erregt. Er schreibt an Freunde, an den Proust-Spezialisten Luzius Keller, um in seiner scheiternden Lektüre Beistand zu erhalten. Aber es hilft nichts, ihm ist und bleibt dieser Autor zuwider, vor allem aus zwei Motiven. Das erste könnte man republikanisch nennen. Aus ihm speist sich der Protest gegen den Snobismus: "Ich ertrage die gesellschaftlich affirmative Haltung des Erzählers nicht, seinen blinden Glauben an die alteingesessenen Hierarchien. Das Ich ist geradezu besessen von der Sehnsucht aufzusteigen und dazuzugehören."

Das zweite könnte man protestantisch nennen, es speist den Protest gegen alles Kanonische, gegen das "gnadenlose" Bildungsbürgertum im allgemeinen und die Proust-Kenner im besonderen. Ein solcher ist Andreas Isenschmid zweifellos. Eben darum ist es reizvoll, sich Zschokke als Leser von Isenschmids Essay vorzustellen. Zschokke ist genervt von Prousts Camouflage der Homosexualität, nicht aus moralischen Gründen, sondern weil zu seinem Protestantismus die Forderung nach Aufrichtigkeit gehört und er es nicht erträgt, wenn in der "Recherche" der Erzähler "mit seinem Stricher, genannt ,Albertine' in Endlosschleife hysterisch herumzickt".

Dazu hätte Isenschmid einiges zu sagen. In seinem Essay treiben der böse Blick und das bestialische Serum der Analyse die Salon-Passagen hervor, und der tödliche Absturz des geliebten Chauffeurs, Sekretärs und Piloten Alfred Agostinelli setzt wie der Tod der Mutter in Proust ungeheure ästhetische Energien frei. Am Ende stirbt der Autor über seinem unabschließbaren Werk. Bekehrt hätte die Isenschmid-Lektüre Zschokke gewiss nicht. Aber vielleicht hätte sie entfacht, was seinem eigenen Essay fehlt, der letzte Furor, die Kunst der hemmungslosen, ihrem Gegenstand gewachsenen Tirade.

Andreas Isenschmid: Marcel Proust. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017. 96 Seiten, 22 Euro. Matthias Zschokke: Ein Sommer mit Proust. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 94 Seiten, 12,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2017
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