Süddeutsche Zeitung

Essay:Alle inneren Ungeheuer

Was von der Selbstisolation übrig ist: verstreute Beunruhigungen und einige Empfehlungen, zum Beispiel des neuen Hoffnungsromans "Park" von Marius Goldhorn.

Gastbeitrag von Enis Maci

Es sei die Zeit der seltsamen Youtube-Videos, es sei die Zeit der Videos mit 16 Aufrufen, sagte Marius Goldhorn, und recht hatte er. Und mehr als das: Es war die Zeit der Home-Office-Styles, des Zoom-Make-ups, es war die Zeit des How to structure my days?, es war die Zeit der <-Interviews mit U-Boot-Kapitänen, Polarforscherinnen, Astronauten.

Es war die Zeit der Prioritäten. Vor Corona, nach Corona. In den Wochen vor Corona, nein, in den Wochen vor Corona in Europa war jeder Tag am Schreibtisch von der Überzeugung begleitet, nach Hanau - vor Hanau, nach Hanau - nach Hanau habe meine Arbeit keinen Sinn, war jeder Tag am Schreibtisch von der selbstformulierten Rüge begleitet: Der Sinn ist, gut zu leben! Der Sinn ist, die heiße Herdplatte zu sein, an der sich die Faschisten die Hände verbrennen. Deren Restwärme verletzt, die aber eigentlich aus einem ganz anderen Grund angestellt wurde. Dieser Grund, dieses Süppchen, dieser Sinn ist - hallo, Teleologie! -: die Arbeit, genauer: die eigene Arbeit. Ist: die Überzeugung, "auserzählt" heiße nicht "zu Ende erzählt", ist: die Überzeugung, dass Kapital und Waffengewalt, die Welt, wie wir sie leider kennen, vielleicht am Kacken halten, aber dass ja immer auch eine drüber reden muss, denn: Ungezeigtes, Unbesprochenes - ist fast schon ungeschehen. Die Wirklichkeit am Mantelsaum festhalten. Sie stolpern machen.

Jetzt - also: gefühlt nach Corona, in Wahrheit mittendrin - geht es um andere Dinge. Die Vergangenheit hat aufgehört, die Zukunft ist gerade so denkbar. Es wäre, selbstverständlich, auch ohne Corona recht schnell um andere Dinge gegangen. Ich denke oft an die Karnevalisten, die sich die Lebenslust von keinem terroristischen Massenmord nehmen lassen wollten, an diejenigen von ihnen, die danach in Quarantäne mussten. Rückzug in den Verein, Rückzug in die eigenen vier Wände. Das Unbehagen, das diesen Rückzug begleitet, ist in Wahrheit eine Verwunderung: The world was supposed to be my oyster.

Eine große Lüge ist: Wenn die anderen mehr bekommen, wird dir nichts weggenommen

Die große Beunruhigung war: ein leerer Alexanderplatz im Märzlicht, den gespenstisch zu nennen viel zu einfach wäre. Die große Beunruhigung lag nicht unbedingt in Gelsenkirchen verborgen - hier hat es nie Touristen gegeben, die eine Leere hätten hinterlassen können. Jetzt ist der Alexanderplatz wieder voll, jetzt wird unter Vermummungsgebot demonstriert, jetzt werden Schwarze Bürger aller Länder, auch des unseren, betrauert, die der Vernichtungswut des Staates ausgesetzt sind. The world has always been only some people's oyster. Alle reinholen, reinlassen ins Perlmutt, bis die Schale birst. Eine große Lüge ist: Wenn die anderen mehr bekommen, wird dir nichts weggenommen. Doch, es wird. Zum Glück. Der Kuchen hat bloß 100 Prozent.

Die Mietmärkte der Welt, kurz schienen sie von fallengelassenen Airbnbs überflutet. Unser letztes großes Staatsunternehmen, kollektiver Besitz der Bürgerinnen: unbesetzte Züge in saftiger Landschaft, die zu durchqueren uns aus gutem Grund verwehrt war. Was ist ein guter Grund? Was ist ein Grund?

In Marius Goldhorns Roman "Park" (Suhrkamp, 140 Seiten, 14 Euro) wird die längst eingetretene Eingehegtheit der Welt nicht länger als Dystopie behauptet. Die Welt ist beschrieben, umzäunt, urbar und damit: erlebbar gemacht. Unser Protagonist Arnold erlebt: Tourismus. Ausschreitungen. Chats und andere Schriften. Extraterrestrische Spezies. Und: eine große Liebe. Arnold ist ein Dichter, ein User, ein Alien. "Tiefe Einsamkeit" überfällt ihn, "als er (...) eine vielleicht vierzigjährige Frau mit Warnweste beobachtet", die es nicht schafft, "das Gummi des LED-Fahrradlichts um ihren Lenker zu spannen". Er schaut sich seltsam sexuell konnotierte Yoga-Videos an. Er beobachtet ein Kind, das "ein Cola-Logo auf der Getränkekarte an der Wand wie eine App auf dem Touchscreen" berührt, "ungläubig, dass keine Animation" folgt. Einmal denkt Arnold: "Das Grausame an der Überwachung ist, dass man an mir kein kriminalistisches Interesse hat, sondern ausschließlich ein ökonomisches." Irgendwann betrachtet er seinen Zeigefinger, der sich wie eine Koralle verästelt. Auflösung.

Das Bedrohliche, das eigentlich ein Wohlbekanntes ist, das Bedrohliche, das im Uncanny Valley wohnt, wo die Dinge fast so sind, wie sie uns versprochen wurden, nein: wo die Dinge bloß noch als Versprechen existieren, das Bedrohliche, das da entsteht, wo Ehrenwort und Verheißung längst Kommodität geworden sind, dieses Bedrohlich-Unbedrohliche ist nicht bloß das europäische Kopfsteinpflaster, über das Arnold läuft, es ist: die große Beunruhigung, ein Fast-aber-nicht-ganz-aus-den-Fugen-geraten, das wir aus unseren Wohnzimmerfenstern und Smartphones heraus betrachten. Science-Fiction für die Gegenwart, Ratlosigkeit, großer Trost: das ist der Hoffnungsroman Park.

Diese Offices sind immer schon Attrappen gewesen, Bürotürme die Leuchttürme der Hilflosigkeit

Die große Beunruhigung war nicht, dass die Offices Attrappen wurden, die große Beunruhigung, nein, die große Beruhigung war die Erkenntnis: Diese Offices sind immer schon Attrappen gewesen. Mazlum Nergiz schreibt (in ihrem Essay "Kopf, Verkopft, Kopf locker, Kopflos" in der Zeitschrift "Edit" 2/2019): Termiten leben ja auch nicht im Hügel, sondern in einem Nest ein, zwei Meter unter dem Hügel, den sie nur bauen, um atmen zu können. Atmen, also Geld verdienen, im Tower, der natürlich ein Pimmel sein kann, aber eben auch: Leuchtturm unserer Hilflosigkeit.

Die große Beunruhigung war: wenn man die Rückkehr ins soziale Leben ausgerechnet in den März gelegt hatte, und der März kam, das soziale Leben aber nicht. Die große Beruhigung lag darin, dass man genau wusste, wie man sich jetzt am besten verhielte. Der elende Auftritt der Yogamatten. Sich auf den Händen halten, als hätten die Beine nachgegeben, bloß: die Beine gehen noch. Voluntary Quarantine. Mazlum Nergiz schickte: ein Video von einer langen Schlange in Amsterdam. In einer Stunde schlössen die Coffeeshops auf unbestimmte Zeit. Wir lachten. Im arabischen Supermarkt war das Klopapier natürlich nicht aus. Die antike, die jahrtausendealte Technologie des Arschwaschens hätte ein Comeback feiern können.

Ich stand auf der Himmelstreppe, ich blickte in die sogenannte Ferne, die immer meine nächste Nähe gewesen war. Wie bin ich hier gelandet? Gestrandete Freunde in den Elternhäusern der Republik: Wir waren die letzten Schwächlinge, und telefonierten, und wagten es nicht, uns an der Straßenkreuzung zu treffen. Ich stand auf der Himmelstreppe, die eine Skulptur ist, ein Steinhaufen, der auf einer Abraumhalde thront. Niemand weiß, wozu Stonehenge gut war. Material verschwenden: ja, Material verwenden: niemals. Bolaño schreibt: "Es gibt Exile, die ein ganzes Leben, andere, die nur ein Wochenende dauern. Bartleby, der lieber gar nicht erst weggeht, ist ein absoluter Exilant, ein Außerirdischer auf dem Planeten Erde."

Das prekäre Verhältnis zwischen "Sammeln" und "Versammeln". Die große Beunruhigung war eine Stimme in meinem Kopf, die JA sagte: JA zur Funkzellenauswertung, JA zur Polizeipräsenz, JA JA JA, die große Beunruhigung war, dass mein kleiner, mein innerer Faschist in der Krise sein seehundglattes Haupt reckte. Ich bin ein Ökosystem, ich bin ein Biotop, ich bin das Loch Ness, und er - mein babykleiner innerer Faschist - ist Nessie. Alle Ungeheuer sind ja immer schon da gewesen. Reinhold Messner träumt: vom Yeti, träumt: von einem grünen Europa, träumt: von seinen vergangenen Zehen. Messner, der keinen inneren Faschisten hat, höchstens: einen inneren Manager, vielleicht. Das Management - des Staates, der Familie, die ja auch ein kleiner Staat ist -, hat neue Gepflogenheiten durchgedrückt. Jetzt, und: jetzt, und: jetzt. Management, letzten Endes hieße das: Regieren per Dekret. Wer nicht flexibel bleibt, wird mürbe gemacht.

Ich wollte nach München fahren, nach Tirana, nach Amsterdam. Ich habe mich niederlassen wollen

Bolaño schreibt: "Melville, der ständig von irgendwo wegging, hat die Kälte des Worts Exil nie kennengelernt." Neue Gepflogenheiten sind das, was der Exilant sucht. Was ihm das Genick bricht, ist: dass ihm die immer gleichen Gepflogenheiten wieder und wieder begegnen - wie den Protagonisten in Mazlum Nergiz Essay: Politisch Verfolgten, Kurden im Londoner Exil, die auch Laienschauspieler sind. Sie beschließen, "Mountain Language" aufzuführen, jenes Stück, das Harold Pinter 1988 schrieb, nachdem er Kurdistan besucht hatte. Mit einem Stoß Requisiten bewaffnet, versuchten diese Exilanten, eine Straße zu überqueren und wurden wenige Schritte später gewaltsam verhaftet. Was ist der öffentliche Raum? Und was bedeutet seine Verteidigung? Es reicht bis hinter die sieben Berge, bis zu den sieben Zwergen: das Empire der Gewalt. Davon spricht Mazlum Nergiz - von versickernder Sprache, vom Lesen, und: vom Stocken.

Es ist die Zeit der Sorge gewesen: Um jene, die da gestrandet waren, die noch immer da gestrandet sind, wo der Rand produziert wird - er bringt sich ja nicht selbst hervor, er wird gemacht -, gestrandet ohne: Seife. Gestrandet ohne: Fließend Wasser. Gestrandet ohne: Heizung. Gestrandet ohne Ärzte, ohne Lehrer, ohne Hilfe. Eine bestimmte, das heißt, die einzig hilfreiche Hilfe ist sogar: strafbar. Es ist die Zeit der Sorge gewesen, und ist es noch: Angela Merkel ist sterblich, Angela Merkel geht in Rente, was auf Angela Merkel realistischerweise folgt, ist: die große Beunruhigung.

Es ist die Zeit der Sorge: eine Rezession versetzt ja gerade dem saturierten Subventionssystem einen Tritt, das mich bezahlt, damit ich es necke. Es ist die Zeit der Sorge, um einander, ums eigne Portemonnaie. Applaus für die Krankenschwestern, Applaus für die Verkäuferinnen, Applaus für die Fahrradkuriere - es kostet ja nichts. Bleibt: die Trinkgeldfrage.

Die große Beunruhigung ist: Diese Sorgen hängen ja unentwirrbar zusammen. Ich lese Luise Meyer, ich beruhige mich: Allein, dass zwei Erfahrungen nicht vergleichbar sind, heißt nicht, dass sie nicht gemeinsam sind. Und das heißt auch: Allein, dass zwei Erfahrungen vergleichbar sind, heißt nicht, dass sie gemeinsam sind. Und das heißt auch: Gemeinsam-sein, schwierig. Gemeinsam-sein-wollen, überhaupt sein-wollen, vielleicht: wollen - ein Anfang.

Die große Beruhigung: Dass es keinen roten Faden gibt, aber einen silbrigen vielleicht

Es ist schon jetzt schwierig, sich an gestern zu erinnern. Ich wollte nach München fahren, nach Tirana, nach Amsterdam. Ich habe mich niederlassen wollen. Ich habe ein Eichhörnchen beobachtet, das seine Nüsse verlegt hatte. Es ist schon jetzt schwierig, sich an morgen zu erinnern: Ich habe den Wannsee umrunden wollen. Es ist die Zeit der mit ungelenker Hand gezeichneten Landschaften. Es ist die Zeit der großen Beunruhigung, die ein Ineinanderfließen ist, eine Milchglasscheibe, ein Puzzle, das zusammengesetzt einen Globus ergäbe, wenn das letzte Stück nicht fehlte.

Im Doppelstockbett liegen - jetzt wird aber wirklich geschlafen! - und mit dem Finger den Amazonas entlangfahren, den Kongo, die Lena, den Finger in die Senken tauchen, Death Valley, Totes Meer, Marianengraben. Wie ist das alles gewesen? Und wie wird es sein? Die große Beunruhigung ist: dass all die Zufälle - vermeidliche, unvermeidliche - vielleicht ein Gewebe ergeben, ein Material - doch dieses heißt nicht unbedingt "everything happens for a reason", es heißt nicht unbedingt "Komplott, Verschwörung, Hegelsches Geschichtsbild, Hexerei". Die große Beunruhigung, nein: die große Beruhigung ist, dass das Gegenteil genauso sehr der Fall ist, wieder mal. Dass es keinen roten Faden gibt, aber einen Faden, einen silbrigen vielleicht, oder viele silbrige Fäden, die gibt es schon, oder: sie begegnen uns zumindest.

Leben heißt ermitteln, heißt nicht nur: den Täter aufspüren, sondern auch: den Tatort, und das Verbrechen noch dazu - das weiß Kajsa Athena aus Tanita Olbrichs gleichnamigem Film (2019 auf dem Kasseler Dokfest uraufgeführt und für den HISCOX-Kunstpreis nominiert), die Detektivin, die nach ihrer Zukunft sucht, die Touristin, die sich einen Hut kauft, die Frau, die sich zu den einzig glaubwürdigen Erklärern aufmacht, zu den Augurinnen, zu Maria und Mohammed. Kajsa Athena, die Kaffee aus kleinen Tassen trinkt und sich die Zeichen deuten lässt, die ihre Hand öffnet, Flächen nach oben - diese Geste heißt: ich ergebe mich. Sie heißt: Ab hier übernimmst du. Sie heißt: Ich habe nichts zu verbergen. Außer vielleicht: die paar Geheimnisse.

Enis Maci wurde 2019 von der Kritikern der "Theater heute" zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gekürt. 2018 erschien ihr Essayband "Eiscafé Europa" bei Suhrkamp. Die verschobene Premiere ihres Stückes "Wunde R" findet am Dienstag an den Münchner Kammerspielen statt.

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Quelle:
SZ vom 16.06.2020
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