Süddeutsche Zeitung

Eurovision Song Contest:Ein bisschen Krieg

Wie soll man jetzt Europa feiern? Der ESC-Vorentscheid hat eine gute schlechte Lösung gefunden.

Von Nele Pollatschek

Man hätte es nicht besser machen können. Man hätte es allerdings auch nicht schlechter machen können. Vielleicht hätte man es ja gar nicht machen können. Wobei auch das wahrscheinlich nicht gut gewesen wäre.

Und so fand er statt, der deutsche Eurovision-Songcontest-Vorentscheid "Germany 12 Points". Am Tag, nachdem das Atomkraftwerk Saporischschja gebrannt hatte. Am Abend, nachdem die Nato die Bitte des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij um eine Sicherung des ukrainischen Luftraums endgültig abgelehnt hatte. Nachdem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock klargestellt hatte: "Die daraus folgende Gefahr grenzenloser Eskalation in ganz Europa kann niemand wollen." Am Abend, nachdem Selenskij der Nato deshalb schwere Vorwürfe gemacht hatte. Am Abend einer Entscheidung, die man utilitaristisch notwendig finden kann, wenn es um die Verhinderung eines Atomkriegs geht, aber eben nicht solidarisch.

Kein Solidaritätskitsch, stattdessen stählernes "The Show must go on"

Will heißen: eine Gesamtsituation, mit der sich ein ESC-Vorentscheid, mit seinen obligatorischen Solidaritätsbekundungen und seinem Ein-Europa-Kitsch, kaum verbinden lässt. Trotzdem fand der Vorentscheid statt, wenn auch nicht wie geplant um 20.15 Uhr, sondern fünfundvierzig Minuten verspätet. Den ursprünglichen Sendeplatz nahm die Spenden-Sendung "Wir helfen - Gemeinsam für die Ukraine" ein, wie auch der ganze Vorentscheid in diesen Spendenaufruf eingebettet wurde. Was sollte man auch sonst machen?

Falls es an dem Abend etwas zu genießen gab, dann nicht die lang ersehnte Gedankenpause, sondern lediglich das Grübeln selbst. Die eigentliche Spannung lag nicht in der Frage, wer Deutschland am Ende in Turin vertreten wird, sondern wie man mit dieser Situation umgehen wird. Und um das noch mal deutlich zu sagen: Es gibt da gerade keine gute Lösung, womit der ESC dann doch eine brillante Metapher für Europa ist.

Was dann gezeigt wurde, sechs Musik-Acts unter der strengen Ägide von Barbara Schöneberger, brachte auch hartgesottene Fans des gepflegten Pop-Schlager-Eskapismus an die Grenzen der kognitiven Dissonanz. Denn die Lösung, für die man sich zunächst entschieden hatte, war, den Krieg praktisch vollkommen zu ignorieren. Kein Solidaritätskitsch, stattdessen stählernes "The show must go on".

Falls in Europa gerade Krieg herrschen sollte, hielt Schöneberger das vor dem Zuschauer zunächst geheim

Schöneberger eröffnete mit einem seichten Elektro-Schlager-Pop-Moderations-Medley, welches den Zuschauer noch mal daran erinnerte, warum Schöneberger ESC-Moderatorin und nicht Kandidatin ist. Wechselte dann zur Begrüßung der Sendegebiete - zur Feier des öffentlich-rechtlichen Föderalismus - durch die deutsche Dialektkultur. Begrüßte die Gäste: Juroren aus den Radiosendern, Texas-Lightning-Sängerin Jane Comerford (ESC 2006), die fabelhafte Conchita Wurst (ESC-Siegerin 2014) und natürlich ESC-Veteran Thomas Hermanns.

Falls in Europa gerade Krieg herrschen sollte, hielt Schöneberger das vor dem Zuschauer zunächst geheim. Moderierte gewohnt gutgelaunt den ersten Act an: Malik Harris mit dem Lied "Rockstars" - einem softrockigen Popsong mit einem stark Eminem-inspirierten und sehr sauber vorgetragenen Rap-Anteil. Es folgten Maël & Jonas, gut gelaunte Bullifahrer in Blümchenjacken.

Eros Atomus - Gil Ofarim meets Kelly Family - legte den mit Abstand professionellsten Auftritt des Abends hin. In einem goldenen Bilderrahmen frohlockte er: "It's great to be alive", und selten wurde der verdammte diem so restlos ge-carpe-t. Erst als Eros von der Bühne stieg, entglitt ihm die gute Laune: "Schwer in der letzten Zeit. Schwer auch auf der Bühne zu stehen. Ähm."

Von Schöneberger wurde das souverän wegmoderiert, während dem Zuschauer das Herz brach. Und man kurz darüber nachdachte, wie jung die Teilnehmer sind, wahrscheinlich so alt wie die ukrainischen und russischen Eigentlich-noch-Kinder, die sich gerade im Krieg und so weiter. Und dann dachte man kurz, dass man so eine Gute-Laune-Liveshow gerade einfach nicht machen kann. Und dann, dass auch das nicht richtig wäre, in Anbetracht dessen, was jungen Menschen in den letzten Jahren alles entgangen ist.

Auf einmal ist alles blau und gelb, auf einmal singt auch das Publikum

Es ging weiter mit Emily Roberts, jung, Felicia Lu, auch jung. Dann Deep Suave und Team Liebe mit "Hallo Welt" und der Frage: "Warum ist Frieden nicht da, wenn man ihn braucht?" Und dann war man durch und durch erstaunt, dass die ARD wohl wirklich entschieden hat, einfach nur Show zu machen und die Zeit zu überbrücken mit einem weiteren Medley. Jane Comerford stieg mit "No no never" ein, wurde dann unterstützt und abgelöst von Conchita Wursts "Rise like a Phoenix", und als sich alles gerade in Euphorie auflösen wollte, wurde es still, Überraschungsgast Gitte Haenning trat auf die Bühne: "Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne, auf dieser Erde, auf der wir wohnen."

Auf einmal war alles blau und gelb, auf einmal sang auch das Publikum, schwenkte Fähnchen in Schwarz-Rot-Gold-Blau-Gelb. Für einen Moment spürte man die Dissonanz nicht mehr und konnte sich dem Europa-Kitsch ergeben, auf einmal hatte man Tränen in den Augen, für die man sich erst später schämen sollte. Und dann kam die ukrainische ESC-Gewinnerin Jamala (ESC 2016) und mit ihr der Krieg, sie sang und schrie und betete ihr Lied "1944". Ein Lied über Stalin und die Deportation der Krimtataren - ein Lied darüber, was Diktatoren der Ukraine antun.

Und damit hätte man enden sollen - nur dass noch jemand gewinnen musste. Malik mit "Rockstars", aber das erwähnt man nur den jungen Künstlern zuliebe, nach Jamalas Auftritt scheint es nebensächlich.

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