Süddeutsche Zeitung

Erzählungsband:Zurück zu Pascal

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Michael Krüger zieht parodistische Polterregister. Aber neben dem Tonikum der Wut finden sich auch Liebeserklärungen an komische Heilige.

Von Christoph Bartmann

Was verbindet diese zurückgezogen lebenden älteren Herren namens "Ich" in Michael Krügers Erzählungsband? Es sind Ehemalige des Lebens, Gegenwartsskeptiker, Fortschrittsverweigerer, Geistesmenschen einer älteren Schule, die dem Hier und Heute nichts abgewinnen können - oder die das zumindest behaupten. Fast alle haben mit Büchern und Literatur zu tun gehabt, manchmal tauchen Klarnamen aus der Vergangenheit auf, Peter Rühmkorf, Wolfgang Koeppen oder Wolf Vostell. Sie haben als Katalogtexter, als Korrektor oder auch als "Geschäftsführer eines Zeitschriftenvertriebs" ein Auskommen gehabt, aber nun sind sie aus der Welt gefallen, die von ihnen nichts mehr wissen will und sie nicht von ihnen.

Wenn hier ab und zu in altertümlicher Formulierung von Dingen wie "EDV" oder "Privatfernsehen" die Rede ist, dann soll damit nur angedeutet sein, dass die Ich-Figuren mit solchen Phänomenen nicht belästigt werden wollen. Einmal, in der ersten Erzählung, wirft der Erzähler "mit innerer Freude" seinen Computer "samt Festplatte und Drucker" aus dem Fenster. Nachdem er das Gerät eine Weile im Regen hat einweichen lassen, hat er es "zwischen zwei dicken Placken Gras in der Bio-Mülltonne versenkt". "Und mit welchem inneren Jubel bin ich zu meinem Pascal zurückgekehrt!", heißt es dann.

Zu Blaise Pascal natürlich und nicht etwa zu der Programmiersprache gleichen Namens. Das ist in seinem geistesaristokratischen Weltverdruss zweifellos dick aufgetragen und kann nicht immer ernst gemeint sein. Laufend quellen hier Briefkästen über von unerwünschten Briefsendungen und letzten Postkarten, Ehefrauen verschwinden ohne Ankündigung, im Stammlokal werden Königsberger Klopse serviert, und sechs Kinder entsagen eines nach dem anderen der Hochkultur und wandern ab in Kommerz und Management. Als Kulturkritik trägt das nicht besonders weit, aber trägt uns beispielsweise die Weltverachtung von Thomas Bernhard kulturkritisch irgendwohin?

Das Stammlokal serviert Königsberger Klopse, und die Kinder entsagen der Hochkultur

Mit Bernhard verbindet Krügers Erzählungen die Freude an einer Rhetorik der Verdammung. Eine Zeitungslektüre verwandelt sich dann zügig in eine Höllenfahrt, nichts als Krisen, Entführungen und Verschleppungen, und im Theater eine andauernde "Schlammschlacht". Überhaupt das Theater: Sollte man nicht ein Stück über Müll schreiben, geht es einer der Ich-Figuren durch den Kopf. "Müll erfreut sich auf der gegenwärtigen Bühne großer Beliebtheit." In seinem Müllstück freilich "müsste auf der Bühne ein großer Müllhaufen liegen, ein wirklich gigantischer, stinkender Müllberg, und kein Vorgang würde heruntergehen".

Manchmal steigern sich die Erzähler auch ohne konkreten Gegenwartsanlass in ein parodistisches Polterregister, so etwa wenn die Bevölkerung der Provinz Bozen als ein "Menschenschlag" geschildert wird, "der aus abgrundtiefer Verzweiflung zu den brutalsten Ausfällen neigt". Das ist, nach Geografie und Wortwahl, reinster Bernhard, und man sieht hier und anderswo, dass es dem ehemaligen Hanser-Verleger Krüger weniger um die konkreten Objekte der Erregung geht als darum, sich die Wut als Tonikum literarisch zunutze zu machen und sie zu kontrastieren mit zarten, lyrischen Momenten. Das sind dann die Momente, in denen die Figuren sich von der Menschenwelt absondern und in die Betrachtung der Natur versenken. Ein Apfelbaum etwa, Bäume überhaupt, auch sie sind Gegenstände der Melancholie, aber es gibt an ihnen wenigstens nichts auszusetzen.

Eine forcierte, immer auch humoristische Endzeitlichkeit durchzieht diese Geschichten, in denen, in nur leichten Variationen, Abschieds-Szenarien entfaltet werden. "Der Gott hinter dem Fenster" heißt Krügers Buch, und der Titel beschreibt auch die Versuchsanordnung dieser Erzählungen: hinter dem eigenen Fenster bleiben, aus Krankheits- und Verdrussgründen, mit niemandem reden, Anrufe nicht beantworten, allenfalls Musik hören ("Ich darf behaupten, alle bedeutenden Stücke der Musik schon mehrere Male gehört zu haben."), das sind die Voraussetzungen für die "göttliche Fähigkeit", das Leben der Menschen da draußen zu lesen wie ein Buch, oder mehr noch, aus den so gelesenen Gedanken und Gefühlen das ideale, alles umfassende, nie geschriebene Buch zu schreiben, das "Buch meiner Einbildungskraft". Nur einen Menschen, sagt der Erzähler, könne er nicht lesen, auch er ein älterer Herr, mit schütterem Haar, ein "Unglücksvogel". Es ist der Baumumarmer. "Als hätte er gerade eine Wüste durchquert, lässt er sich gleichsam in die Arme des Baumes fallen, wobei er seine Hände mit den langen, mageren Fingern seitlich über die Borke des Baumes wandern lässt, als wollte er ihn, abtastend erkennen."

An solchen liebenden Idioten und komischen Heiligen findet Krügers Einbildungskraft ihre Bestimmung. Den Gott hinter dem Fenster stellt der Baumumarmer auf eine ernste Probe: Alles und alle glaubt er lesen zu können, was aber gibt ihm dieser Narr zu deuten? Er bringe seine "Theorie über die Durchschaubarkeit des Menschen" durcheinander, sagt der Erzähler. Er lehre ihn Bescheidenheit, man könnte auch sagen, unverstandene, unabgeschlossene Diesseitigkeit. Solange man sich auf die Ereignisse vor dem Fenster keinen finalen Reim machen kann, lohnt sich für die Götter dahinter die Beobachtung ihrer Geschöpfe.

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Quelle:
SZ vom 24.11.2015
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