Bei manchen Büchern entscheidet sich schon auf der ersten Seite, ob sie einen erwischen; andere muss man erst bis zum Ende lesen, bevor ihr Rätsel sich erschließt. Ulrike Almut Sandigs "Buch gegen das Verschwinden" ein Rätsel zu nennen, ist gewiss angebracht. Und doch gehört dieser zweite Prosaband der 1979 geborenen Autorin zur ersten Sorte: Hier ist gleich klar, dass eine Könnerin schreibt, die ihre Satzmelodien ganz leicht anzuschrägen versteht.
"Geschichten" nennt der Verlag die Texte, nicht Erzählungen. Auch nicht Storys. Eine ambivalente Gattungsbezeichnung mit einem altertümlichen Hallraum; Geschichten schließen beides ein, Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Und wie das so heute ist, man googelt und denkt sich: Sieh an, die Autorin entstammt einem ostdeutschen Pfarrhaus, was noch nichts heißen muss, aber wenn sie ihre "Geschichten" anordnet wie die sieben Tage der Schöpfungsgeschichte, dann vielleicht doch?
Das Rätsel löst sich erst, wenn man beim fünften Text angekommen ist
Fünf längere Texte lesen wir in diesem "Buch gegen das Verschwinden". Eingefasst werden sie von einem kleinen, opaken Prosastück über das Jahr 2117 - genau: über den 11. Dezember jenes Jahres, an dem die Venus wieder als blinder Fleck vor der Sonne vorüberziehen wird. (Das letzte Mal tat sie das im Juni 2012.) Und beendet wird das Buch von einem Schlusskapitel voller Fußnoten, das die Autorin "Sonntag" nennt. Das ist der Tag, an dem in den evangelischen Pfarrhäusern auf Ruhe gehalten wird, während die Kirchenglocken läuten. Wohingegen das titellose Einleitungsstück keineswegs die Arbeit des Montags übernimmt, um Himmel und Erde zu schaffen. Nein, von einem "Sonnabend" in ferner Zukunft ist am Anfang die Rede: "am elften Dezember 2117 bist du nicht mehr da, und ich bin auch nicht mehr da, und das Kind, das in meinem Bauch wächst, es ist auch gar nicht mehr da."
Rätsel total. Man wird das erst verstehen, wenn man bei der fünften Geschichte angekommen ist. Sie heißt "Über unsere Abwesenheit" und spielt in exakt jenem Jahr 2117. Eine Großmutter - ein bisschen Futurismus muss sein - spricht in ihre Hand, die zugleich ein Aufnahmegerät ist, denn es wurde ihr ein Chip eingepflanzt. Weil sie aber vergessen hat, ob in die rechte oder die linke Hand, kann sie sich nicht sicher sein, dass ihr Reisebericht vom anderen Ende der Welt ihren Sohn erreicht. Der will endlich einmal allein sein, also ist die Oma mit der Enkelin nach Notonesien gereist (gegründet 2062), wo den beiden allerhand Abenteuer widerfahren, unter anderem dies: Die Venus zieht als "fast unsichtbarer, pechschwarzer Punkt" über die Sonne. So stand es am Anfang - "im Anfang", mit Johannes gesagt - und jetzt wird es wahr. Ewigkeit, Textgläubigkeit und Zukunft gehen, ohne dass es aufdringlich wäre, eine kühne Verbindung ein bei Ulrike Almut Sandig.
Auch die "Geburtstagsgeschichte" steht auf doppeltem Textboden. Man liest zunächst die Erzählung eines Mannes, den seine Frau verlässt, sodass das gemeinsame Kind fortan zwischen zwei Wohnungen pendelt. Die neue Wohnung des Vaters unterm Dach ist ausgestattet mit einer "barrierefreien Dusche", denn, wie allmählich klar wird, handelt es sich um einen, der "einmal jemand ganz anderes gewesen war, nicht einmal ich konnte das glauben, dabei hätte ich jede Menge Zeugen gehabt, sogar Pjotr". Dieser Pjotr ist der Bruder des Erzählers, ein Sportreporter und ständig unterwegs in aller Welt. Zum Geburtstag des gehandicapten Bruders kommt er nicht vorbei, schickt stattdessen eine Mail: "hej, ich hab was für dich. es ist eine wahre geschichte. kein boulevard, kein sportredaktionsgequatsche, verstehst du? ich muss dir etwas erzählen, das mir passiert ist und mit dir zu tun hat."
Die angekündigte Geschichte wird kunstvoll verzögert, bis sie schließlich als seitenlange Fußnote im Abschnitt "Sonntag" zu lesen steht: Die Autorin taucht ab in die surrealen Windungen der DDR-Historie, in der unter ständig wechselnden Namen, einer davon ist Pjotr, ein späterer Verleger in der perfekten Maskerade eines weltweit agierenden Fußballreporters die Behörden foppt, dass es eine Freude ist. Erst als er über einen erstklassigen einbeinigen (!) Fußballspieler aus Liberia berichtet, kommt bei seinen Auftraggebern der Hauch eines Zweifels auf - tja, und einbeinig ist auch der Ich-Erzähler der "Geburtstagsgeschichte". Als dieser seinem Bruder Pjotr, oder Pete, oder Pietro - er wechselt ebenfalls ständig den Namen - eine Mail schickt, wird sie als elektronischer Dämon retourniert: "Ich stellte mir den Mailerdämon als gesichtslosen Nachtmahr aus einem meiner seltenen Albträume vor. Ein Nachtmahr mit der Seele eines defekten Uhrwerks, der mir schwer auf der Brust saß und sich so lange um die eigene Achse drehte, bis mir schwindelte."
Diese erstaunliche Autorin hat den Menschen ziemlich tief in die Seele geblickt
Ja, zum Schwindeligwerden ist dieses auf gegenwärtige Weise romantische Buch voller unlösbarer Rätsel, und gerade das macht es so schön. Nein, nicht nur schön. Auch melancholisch, böse, rührend sind diese Geschichten vom Verschwinden, die sich "gegen das Verschwinden" richten. Was aber verschwindet eigentlich? Alles, könnte man sagen: Ein Kind verschwindet, fast; das Gespräch verschwindet durch Kommunikation; eine Ehefrau verschwindet nach einem langen, geteilten Leben; ein Archiv verschwindet in den Tiefen einer Stadt; ein Wanderer verschwindet im Schnee, und einmal verschwindet sogar ein Geschlecht für ein anderes, neues. Die alte Heimat ist längst verschwunden, wie Gewohnheiten und Freundschaften.
Es ist faszinierend, wie die Autorin, die neben Prosa auch Lyrik schreibt, die Mikroneurosen gegenwärtiger Bastelfamilien, deren psychische Kollateralschäden sie genau erfasst, kombiniert mit einem erdgeschichtlichen Sinn für Landschaften und Naturgewalt. Überhaupt Gewalt: der Auftritt einer vandalierenden Affenhorde ist so eindringlich geschildert wie der Schneesturm im Unterengadin; wie der Tod einer geliebten Person und die darauf folgende Einsamkeit.
Ulrike Almut Sandig verfügt über eine erstaunliche Sprache und hat, wie es aussieht, den Menschen ziemlich tief in die Seele geschaut. Doch ist es der schöpfungsgeschichtliche Subtext, der ihrem "Buch gegen das Verschwinden" das überzeitliche Surplus verleiht. Lesend fühlt man sich immer leicht neben der Spur. Das ist ein gutes, komplexes Gefühl.