Erzählungen von William TrevorDiffuses Gelände

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Neue Erzählungen des irischen Schriftstellers William Trevor, einem Meister des atmosphärischen Impressionismus.

Von Meike Feßmann

Dass wir wenig von anderen wissen, wenig sogar von uns selbst, das ist die einfache Wahrheit, aus der William Trevor den Honig seiner schlackenlosen Geschichten saugt. Seine Figuren haben ein Talent zum Glück, und sie sind bereit, sich sogar mit dem Nachklang des Glücks zufriedenzugeben. Aber sie ahnen, dass ihre Vorstellungen jederzeit durchkreuzt werden können. Die Sehnsucht nach dem Alltäglichen überfällt sie, sobald etwas Beunruhigendes geschieht. Manchmal ist es der Tod einer scheinbaren Randfigur, die in den "Letzten Erzählungen" des großen irischen Schriftstellers für Unruhe sorgt. Keiner kann den Sinn so driften lassen wie William Trevor. Die Mitteilung, dass Emily Vance, eine junge Frau, die eine Zeitlang bei ihr geputzt hat, durch einen Verkehrsunfall in Dublin ums Leben gekommen ist, sickert wie ein Unruheherd in die wohlkontrollierte Welt von Harriet Balfour ein. War es überhaupt ein Unfall? Keiner weiß etwas über "Das unbekannte Mädchen" (so heißt die Erzählung). Einmal, so erinnert sie sich, sah sie Freude auf Emilys Gesicht. Sollte sie in ihren Sohn verliebt gewesen sein? William Trevor ist ein Meister fast impressionistisch hingetupfter atmosphärischer Verwirbelungen. Die entscheidenden Dinge geschehen nebenbei.

Am Ende der Party zu seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag fragt Stephen seine verwitwete Mutter, ob sie sich an Emily Vance erinnere. Sie sind gerade beim Aufräumen, zerbrochene Gläser werden eingesammelt, vergessene Kleidungsstücke sichergestellt. "Sie kennt keine Blumennamen", charakterisiert er sie, während er erzählt, dass sie oft gemeinsam im Garten waren. Erst jetzt sagt ihm seine Mutter, dass Emily gestorben ist.

Eine unheimliche Präzision im diffusen Gelände der Emotionen

Das Setting, die Dialoge, das Umschwenken des Sohnes, der gerade im Begriff war, seine Gefühle zu offenbaren und plötzlich mit der "emotionslosen" Stimme des zukünftigen Kinderarztes spricht, während er vom Präsens in die Vergangenheitsform wechselt, münden in einen Monolog, der die unaussprechliche soziale Kluft zwischen den Liebenden auf eine Weise ausdrückt, in der die seelische Not der Toten posthum eine Form findet: "Sie hat es im Garten gestanden, auf die nüchterne Art eines Menschen, der einem das Haus putzt. Sie hörte sich meinen Optimismus an: dass all das jetzt für immer vorbei sei. Wir sprachen von Liebe. Sie lächelte ein wenig, ihr sanftes, einsames Lächeln. Sie sprach es nicht aus, ließ aber durchblicken, dass sie in den Zimmern eines ruhigen Hauses, wenn sie zu lieben versuche, nicht lieben könne, und wenn sie zu hoffen versuche, nicht hoffen könne. Im Garten liefen wir stumm nebeneinander her, und dann verschwand sie."

Das Oszillieren des Fokus gehört zu Trevors Meisterschaft, seiner unheimlichen Präzision im diffusen Gelände der Emotionen. Der 2016 verstorbene Schriftsteller hat 23 Romane und elf Erzählbände publiziert. Er war zunächst Bildhauer, arbeitete auch als Lehrer und Werbetexter und lebte seit 1952 in England. 2002 wurde er von Queen Elizabeth II. zum Ehrenritter ernannt.

Gefühle färben Erinnerungen ein, die Vergangenheit überlagert die Gegenwart

Einfühlung und Übertragung stoßen seinen Figuren manchmal regelrecht zu und durchkreuzen ihre Pläne. In einer Art Brontë-Szenerie spielt die Geschichte um Mary Bella, "Ein Idyll im Winter". Aufgewachsen in den Yorkshire Moors und noch immer dort lebend, kommt eines Tages zufällig der Mann zurück, in den sie sich am Ende der Kindheit verliebt hatte. Der zehn Jahre ältere Anthony war kurze Zeit ihr Lehrer, längst lebt er mit Frau und Kindern in einem Londoner Vorort. Ihre Liebe flammt wieder auf, er zieht zu ihr auf den Gutshof. Doch eines Tages kommt ein Brief seiner Frau. Die ältere seiner beiden kleinen Töchter hat zu hungern begonnen und liegt bereits im Krankenhaus. Anthony zieht eine Zeitlang nach London, kehrt aber nach Old Grange zurück. Als sich das Hungern wiederholt, bemerkt Mary Bella zu ihrer eigenen Verblüffung, dass sie den Gedanken nicht aushält, mit dem eigenen Glück andere Menschen zu beschädigen.

Es fehlt nicht an Wut und Zorn in diesen Geschichten. Doch das Augenmerk liegt auf den Strategien, wie sich mit Schicksalsschlägen umgehen lässt. "Im Caffè Daria" erzählt von einem Weingutbesitzer aus dem Piemont, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im zerstörten London ein Café gründete, um seiner Geliebten ein Denkmal zu setzen. Ein Dichter hatte sie ihm ausgespannt. Jahrzehnte später findet dort eine Verlagsangestellte Trost, der ähnliches geschehen ist. Für die Macht großmütiger Gesten allerdings fehlt ihr das Geld. Sie kann nur heimlich das Haus umschleichen, in dem sie einst glücklich gewesen ist. Häuser, Orte, geschützte Räume spielen eine große Rolle in diesem von Hans-Christian Oeser übersetzten Band, der etwas zupackend Elegisches hat.

"Dass man die Zeit vielleicht dort belassen sollte, wo sie sich abgelagert hat", ist einer der ebenso schlichten wie tiefgründigen Gedanken, von denen es in diesen zehn Erzählungen viele gibt. Wie Gefühle Erinnerungen einfärben und Echos der Vergangenheit die Gegenwart überlagern, schildert Trevor mit dem sicheren Zugriff eines Erzählers, der weiß, wie man Stimmungen erzeugt und Geschichten bei aller Präzision ihre Rätsel lässt.

William Trevor : Letzte Erzählungen. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020. 208 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 10.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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