Süddeutsche Zeitung

Erzählband "Die Ermordung Margaret Thatchers":Der Tod fährt mit bis Waterloo

In "Die Ermordung Margaret Thatchers" führt Hilary Mantel durch eine ungemütliche und menschenfeindliche Welt. In England sorgten die Kurzgeschichten für Furore; jetzt sind sie auf Deutsch erschienen.

Von Alexander Menden, London

Ich will es sehen. Das verpasse ich nicht", sagt die Frau, und der Attentäter tut ihr den Gefallen. Er lässt sie zuschauen, wie er sich hinkniet und seine Position einnimmt: "Er sieht, was ich sehe, den glitzernden Helm ihres Haars. Er sieht ihn wie eine Goldmünze in der Gosse leuchten, groß wie den vollen Mond." Dieser Haarhelm ziert einen Kopf, auf den der Attentäter gleich seine Waffe richten wird. Wessen Kopf das ist, und wie das Ganze ausgehen wird, darüber lässt der Titel der Kurzgeschichte, der diese Szene entstammt, keinen Zweifel: "Die Ermordung Margaret Thatchers".

Aus ihrem "kochenden Ekel" vor der Tory-Ikone hat Hilary Mantel nie einen Hehl gemacht

Es ist nicht unbedingt ein Wunschtraum, den Hilary Mantel da beschreibt, obwohl sie nie einen Hehl aus ihrem "kochenden Ekel" vor der Tory-Premierministerin gemacht hat. Sie spinnt nur ein Szenario weiter, das einmal in ihrem Hirn aufblitzte, als sie Thatcher 1983 zufällig aus dem Fenster ihrer Wohnung in Windsor sah. "Ich dachte, wenn nicht ich es wäre, sondern jemand anders, wäre sie jetzt tot", verriet die britische Autorin dem Guardian. Mehr als drei Jahrzehnte danach ist der mörderische Impuls in eine verstörende Kurzgeschichte eingeflossen, in der eine wohlhabende Frau in ihrer Wohnung in Windsor auf den Klempner wartet, und stattdessen versehentlich einen Attentäter einlässt. Der Mann, vermutlich von der IRA, will von ihrem Schlafzimmerfenster aus Margaret Thatcher erschießen, die gerade in der privaten Augenklinik gegenüber operiert worden ist.

Vielleicht war es Hilary Mantel etwas zu gemütlich geworden. Vielleicht hatten die britischen Leser am konservativen Ende des politischen Spektrums sie für ihren Geschmack ein bisschen zu sehr ins Herz geschlossen. Vielleicht brauchte sie auch einfach einen literarischen Gaumenreiniger zwischen dem zweiten und dritten Band ihrer phänomenal erfolgreichen Thomas-Cromwell-Trilogie. Wie auch immer, mit dem Kurzgeschichtenband "Die Ermordung Margaret Thatchers" hat die zweimalige Booker-Preis-Gewinnerin einen boshaften kleinen Fuchs im publizistischen Hühnerstall losgelassen.

Die titelgebende Geschichte wurde vom Daily Telegraph, der sich anscheinend ohne Ansicht des Textes für viel Geld die Erstveröffentlichungsrechte gesichert hatte, entsetzt abgelehnt. Thatchers Weggefährten regten sich mächtig auf. Dabei wird es ihnen herzlich egal gewesen sein, dass die Kurzgeschichte, in der die imaginäre Ermordung vorbereitet (aber nicht gezeigt) wird, zum Besten gehört, was Hilary Mantel geschrieben hat. Wie in ihren Historienromanen spürt man in der "Ermordung" eine machiavellistische Nüchternheit, die auch die Tudorwelt von "Wölfe" und "Falken" durchzieht. Sie vermischt sich mit einem Gefühl geradezu erotischer Genugtuung, die das Gedankenspiel mit alternativen Realitäten und der Entfernung eher unliebsamer Personen aus dieser Parallelwelt bereithalten kann.

Wenn etwas die zehn vordergründig disparaten Stories in dem 158-Seiten-Band verbindet, dann ist es das Gefühl einer meist ebenso unkonkreten wie tief sitzenden Unzufriedenheit mit der Existenz ihrer Protagonisten und Erzähler. Nur im Falle Thatchers werden - sehr radikale - Maßnahmen ergriffen, diese Unzufriedenheit zu lindern. In der ersten Geschichte "Der Besucher", die bereits 2009 als Erinnerung der Autorin an ihre Zeit im saudiarabischen Dschidda im London Review of Books erschien, greift diese Unzufriedenheit auf die Physis der Erzählerin über: "Das Herz wurde mir schwer. Es war ein körperliches Gefühl, ein Gefühl verlorener Monate, in denen ich wenig natürliches Licht abbekommen hatte."

Es ist eine Klaustrophobie erweckende Geschichte, in der Ijaz, ein arabischer Geschäftsmann, der eines Tages hilfesuchend vor der Tür der Erzählerin steht, sich ebenso langsam wie hartnäckig in ihr Leben schiebt. Sie verbringt ihre Tage allein in einer von der Außenwelt weitgehend abgeriegelten Wohnung, während ihr Mann bei der Arbeit ist, und versucht, sich der verkrampften Zutraulichkeit des Besuchers zu erwehren, ohne ihn zu beleidigen. Mantel entlockt der rigiden wahhabitischen Gesellschaftsordnung, der erstickenden Einsamkeit der westlichen Ausländerin eine grimmige Komik - die Unbeholfenheit von Ijaz' Annäherungsversuchen, die wenigen, peinlichen Besuche bei Freunden und Nachbarn, das alles ist ebenso lächerlich wie traurig.

In einer surrealen Szene betritt die Erzählerin ihr Wohnzimmer, in dem sich die Möbel in unerklärlicher - und unerklärter - Weise umarrangiert haben. Solche Momente unvermittelten Grusels sind ein bedeutender Aspekt in Mantels Werk, am ausdrücklichsten in ihrem Geisterroman "Beyond Black"(2005). Metaphysischer Horror bildet ein Gegengewicht zu ihrem sachlichen, unsentimentalen Blick auf die Menschen und ihre Verhältnisse. Mantel selbst berichtet in ihrer Autobiografie "Giving up the Ghost" (2003) ohne jede Ironie von einer Begegnung mit einer dämonischen Präsenz: Die siebenjährige Hilary sieht hinter dem Gartenzaun eine Gestalt "so groß wie ein zweijähriges Kind", das "keine Ränder, keine Masse, keine Dimensionen" hat. Die Präsenz schlüpft kurz in sie hinein, und bringt ihren Körper "auf kranke Art zum Schwingen".

Denkt man diese überaus seltsame Kindheitsepisode mit, bereichert das die Lektüre vieler ihrer Stories: In "Wie soll ich dich erkennen" muss eine Autorin auf einer albtraumhaft deprimierenden Lesereise in einem heruntergekommenen Bed & Breakfast übernachten. Sie riecht Gas, und träumt "unter der schwammartigen Tagesdecke" von der geriatrischen Gruppe, zu der sie an diesem Abend gesprochen hat: "Ihre Mitglieder rollten unter dem Bett hervor, kicherten und verstopften die Ritzen und Fenster und Tür mit ihren zerrissenen Manuskriptseiten." "Endstation" beginnt mit dem Satz: "Am 9. Januar, kurz nach elf an einem dunklen Morgen mit Schnee und Regen, sah ich meinen toten Vater in einem Zug aus dem Bahnhof Clapham Junction fahren, Richtung Waterloo."

Hilary Mantels England ist weder eine gemütliche noch eine menschenfreundiche Welt

"Das Herz versagt ohne Vorwarnung" schließlich erzählt von der essgestörten Morna, die sich zu Tode hungert, während ihre Eltern und ihrer Schwester Lola ebenso genervt wie entsetzt dabei zusehen müssen. Am Ende sind alle Spuren der toten Morna "aus dem Zimmer verschwunden, doch Lola weiß, dass sie immer noch da ist". Und richtig, beim Blick aus dem Fenster sieht Lola ihre Schwester im nächtlichen Garten stehen: "Ihr großer, gerader Körper flackert in ihrem Nachthemd, ihr Gesicht wirkt verwischt, wie von Tränen oder Nieselregen, und sie trägt keinen lesbaren menschlichen Ausdruck."

Natürlich ist Hilary Mantel keine Horror-Autorin. Aber in solchen Momenten rückt die Booker-Preis-Gewinnerin englischen Genre-Autoren wie M.R. James oder Ramsey Campbell doch sehr nahe. Der scharfe Schockeffekt des letzten Satzes von "Winterferien", der Beschreibung einer Italienreise, die eine fürchterliche Wendung nimmt, steht in bester Gothic-Tradition. Nicht immer liefern Mantels Kurzgeschichten ein solch befriedigendes oder überraschendes Ende. Doch das wiegt meist ihr scharfer Blick für die triste Realität auf, und auch ihre sparsame, stilsichere Sprachbeherrschung, die jeder Überzogenheit und ungewollten Lächerlichkeit vorbeugt.

Es ist keine gemütliche und keine menschenfreundliche Welt, Mantels England der Händler in "heruntergekommenen, von zweiter, dritter Hand vermieteten Büros, Läden für Billigflüge nach Miami und Bangkok sowie abgesperrten Höfen, in denen überzüchtete Terrier knurrten und Autos flott überspritzt wurden, bevor sie einen glücklichen neuen Besitzer fanden". Aber es ist eine Welt, durch die man von niemandem lieber geleitet würde als von dieser Autorin auf der Höhe ihres Könnens.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2014/cag
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