Archiv für Street Art:"Ein Gefühl wie beim Tanzen"

Als der Breakdancer Lee Bofkin nicht mehr tanzen konnte, fing er an, Graffiti ihrer Vergänglichkeit zu entreißen. Der Brite reist um die Welt, fotografiert Straßenkunst - und trägt alles in seinem weltweit einzigartigen Archiv für Street Art zusammen.

Anja Perkuhn

Manche Menschen werden schwermütig, wenn sie in den Regen sehen, andere werden melancholisch, wenn sich im Herbst die Blätter an den Bäumen gelb färben. Lee Bofkin machen Züge traurig. Züge, die an ihm vorbeirauschen, Wagen um Wagen, mit den schönsten und wagemutigsten Graffitis darauf - aber zu schnell, als dass er sie fotografieren könnte.

Lee Bofkin ist ein Jäger, ein Sammler. Ein selbst ernannter Bewahrer, der mit der etwas zu hoch sitzenden silbernen Brille und der blassen Nase über den weiten Hip-Hop-Klamotten ein wenig aussieht, als würde er Kleidung und Leben eines älteren Bruders auftragen. Zusammen mit Dan White, einem Web-Entwickler, und einem weiteren Mann, der anonym bleiben will, weil er in einem großen Finanzunternehmen arbeitet, baut er gerade ein Archiv auf für Graffiti und Street Art. Mehr als 50.000 Fotos von Bildern aus Ländern aller Kontinente haben sie schon beisammen, aufwendig sortiert nach Künstlern, Technik, Fundorten, Oberflächen, angereichert mit Künstler-Interviews.

"Global Street Art" heißt das Projekt, von dem Bofkin spricht, als wäre es ein Museum. Bisher gibt es das Archiv nur online, aber von London aus, wo der 31-Jährige lebt, soll es wachsen und auch physische Gestalt annehmen, irgendwann, irgendwie. Brücken wollen sie bauen, sagt er, vermitteln zwischen Künstlern, Kunstfans und dem Rest der Welt.

Und der Zeit das Flüchtige entreißen, auch, wenn es sich um Graffiti handelt - eine Kunstform, deren Reiz zum großen Teil in ihrer Wildheit, ihrer Halb- bis Illegalität und Vergänglichkeit liegt, weil die Werke unerwartet an öffentlichen Plätzen plötzlich da sind und schon am nächsten Tag wieder mit einem neuen Bild übermalt sein können. "Wir versuchen ja nicht, die Originale zu bewahren", sagt Bofkin. "Es gehört dazu, dass die Bilder sich verändern, dass ein anderes den Platz einnimmt. Aber Street Art ist wie eine Linse, durch die man die Themen sieht, die Menschen zu einer bestimmten Zeit bewegt haben."

Breakdancer und Evolutionsforscher

Bofkin selbst war nie ein Sprayer, weil er nicht malen kann, sagt er. Er war einst professioneller Breakdancer, trat bei internationalen Wettbewerben an. Nebenbei studierte er Mathe und Evolutionsgeschichte in Oxford, machte in Cambridge seinen Doktor mit einer Arbeit über die Auswirkungen evolutionärer Prozesse auf DNA-Sequenzen. Die Geschichte von Lee Bofkin, dem Breakdancer und Akademiker, endete 2006, als er sich bei einem Wettkampf am Knie verletzte. Es war vorbei mit dem Leistungssport - und es begann die Geschichte von Lee Bofkin, dem Graffitisammler. Dem Hilfsarbeiter einer Kunstform aus einer Welt, in der er, der unbrauchbare Tänzer, nur noch einen Platz in einer der hinteren Reihen hatte.

"Es staute sich eine giftige Energie an, ich musste etwas tun", sagt er. Also schlich er in der Stadt umher und fotografierte, vor allem Kunst an Londons Mauern. Er fand einen Job im Finanzwesen. Das fühlte sich für ihn eher wie ein Hobby denn ein Beruf an, aber so konnte er herumreisen. Seine Firma schickte ihn zu Meetings überall in der Welt; er zog nach Los Angeles. Später wechselte er ins Versicherungswesen. Auch diese Firma schickte ihn zu Meetings überall in der Welt; er zog nach Spanien.

Risiko statt Versicherungsbranche

Und überall fotografierte er Graffiti. Zu dieser Zeit lernte er den zukünftigen Mitbegründer von Global Street Art kennen, "und mir ging auf, dass meine Zukunft nicht in der Versicherungsbranche lag. Ich musste jetzt etwas riskieren - oder für den Rest meines Lebens bereuen, dass ich es nicht versucht habe."

Zurzeit arbeitet das Team mit einem britischen Graffitimaler mit dem Künstlernamen Inkfetish zusammen, er wird mit ihrer Hilfe im Oktober seine erste Ausstellung in London eröffnen. Ein Online-Shop ist auch geplant, was dort verkauft werden könnte, dazu sollen die Website-Besucher gerade Wünsche äußern - Apps, Shirts, Drucke der Kunstwerke, Bofkin legt sich da nicht fest. Es gehe zwar bei dem Projekt nicht ums Geld. Irgendwie müsse das Projekt aber natürlich Geld machen. Um sich etwas dazuzuverdienen arbeitet Bofkin zusätzlich im Immobilienunternehmen seiner Eltern. "Vielleicht dauert es ein Jahr, vielleicht zehn, bis wir herausfinden, was das überhaupt genau für ein Business sein kann, das wir da angefangen haben", sagt er. "Aber die Zeit nehmen wir uns." Zwei Bücherdeals gibt es immerhin schon für Global Street Art. Bildbände, zusammengestellt aus Lee Bofkins Fotoarchiv.

Warum die Welt so etwas braucht, eine fein säuberliche Graffiti-Bildersammlung? "Die Mona Lisa ist doch auch eingescannt", sagt Bofkin schlicht. "Eine visuelle Dokumentation davon zu haben, ist von unschätzbarem Wert. Man kann damit einer größeren Gruppe von Menschen zeigen, wie wertvoll öffentliche Kunst ist." Immerhin, sagt er, sei Street Art die größte Kunstbewegung der Welt, "mit Tausenden und Abertausenden Künstlern".

Er schwingt sich also ziemlich jeden Morgen auf sein Fahrrad, ein großes, bunt besprühtes Mountainbike. Und dann radelt er los, auf der Suche nach bemalten Wänden - oder leeren. Das "Wall Project" ist ebenfalls ein Teil seiner Arbeit, Bofkin sucht in London nach freiem Raum für Graffitikünstler. Mal ist es eine Wand, mal eine Hausfront oder die Rollläden eines Geschäfts, für die er Bemaler vermittelt. Die Besitzer dürfen aber keine Bedingungen stellen, was genau gemalt wird, "sonst wäre es ja keine Kunst mehr", sagt Bofkin.

Bis zu 1500 Fotos am Tag

Er pflegt das Blog des Projektes, die Social-Media-Kanäle. Nebenbei organisiert er Musik- und Kunstfestivals in London. Und immer wieder nutzt er Bonusmeilen und macht sich auf in andere Städte und Länder, um neue Bilder zu sammeln. Im vergangenen Jahr reiste Bofkin 26 Tage lang durch Deutschland, die Schweiz und die Niederlande, durch mehr als 80 Städte. Etwa 400 Bilder machte er pro Tag. An manchen dieser Tage waren es 1500.

Er folgt Hinweisen von Freunden, Bekannten, von Websites und Blogs, fragt sich durch, findet auch mal zufällig ein Werk hinter einer Ecke, unter einer Brücke. "Es ist immer ein Abenteuer", sagt er. "Es ist ein Gefühl, sich zu verlieren. Es ist das gleiche Gefühl wie beim Tanzen."

In einer früheren Form des Artikels hatten wir geschrieben, dass Lee Bofkin das weltweit erste Archiv von Graffiti und Street Art erstellt. Natürlich gibt es bereits Online-Archive dieser Art und auch physische Sammlungen mit Bildern von Graffiti, Infomaterial, Bildbänden und Magazinen. Ihm geht es um das erste nicht-digitale Archiv, in dem die Werke der Künstler ausgestellt und kategorisiert werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: