Erster Weltkrieg:In der Ödnis des deutschen Sandes

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Der Weltkrieg als Katastrophe Italiens: Carlo Emilio Gadda und Bonaventura Tecchi im Celle-Lager 1918.

Von Lothar Müller

Am 20. September 1918 besuchte Eugenio Pacelli, damals Apostolischer Nuntius in Bayern, das Kriegsgefangenenlager in Scheuen bei Celle in Niedersachsen. Es war nicht irgendein Tag. Am 20. September 1870 hatten italienische Truppen Rom eingenommen und den Kirchenstaat in den noch jungen Nationalstaat Italien integriert. Italienische Kriegsgefangene hatten ein aufwendiges Festprogramm organisiert, mit Ausstellungen, Sportwettkämpfen und Theateraufführungen.

Ein italienischer Offizier hielt in seinem Tagebuch die Ankunft von Monsignore Pacelli fest, "dem ersten Italiener, der als Nichtgefangener seinen Fuß ins Cellelager setzt". Der Offizier war noch drei Tage später mit der Aufzeichnung über den 20. September, den Auftritt und die Ansprache des Nuntius beschäftigt: "Er ist groß, schlank, mit Brille, trägt einen Priesterhut aus glattem Filz, aber kleiner und runder als die üblichen und mit einer grünen und goldenen Kordel verziert; dünne und spitze Nase; schwarze Soutane. Er öffnet einen dunkelbraunen Schirm à la Landpfarrer; er hat kein geistliches Gefolge. Im Laufschritt geht alles zur Kirche; die italienischen Offiziere, das übliche Gedränge um ihn und hinter ihm wie eine Schafsherde."

Italienische Kriegsgefangene der Österreicher in Venetien 1918. (Foto: Scherl/SZ-Photo)

Das klingt distanziert, und ausdrücklich hatte sich der Tagebuchschreiber vorgenommen, aus der Perspektive eines Zuschauers zu schreiben. Aber dann treten ihm während der Ansprache des Nuntius, der den apostolischen Segen des Papstes Benedikt XV. überbringt (und, was der Offizier nicht wissen kann, ab 1939 als Pius XII. selbst Papst sein wird), doch die Tränen in die Augen. Der Offizier schreibt: "Ich habe alles erlitten, die Armut, den Tod des Vaters, Demütigung, Krankheit, Schwäche, die Ohnmacht des Leibes und der Seele, die Angst, den Hohn, um in Karfreit zu enden, am Ende aller Enden. Ich habe keine Liebe erfahren und auch sonst nichts. Die Intelligenz dient mir nur dazu, zu betrachten und zu leiden. Der Elan des Traums, die Liebe zum Vaterland und zur Gefahr, meine Begeisterung für den Krieg haben mich zu einem ungeheuerlichen Leiden geführt, zu einer geistigen Entstellung, die ihresgleichen sucht. Mit der Intensität eines Asketen spürte ich in diesem Moment die Leere, die schreckliche Leere meines Lebens, seine Kürze, sein Ende."

Carlo Emilio Gadda, 1893 in Mailand geboren, war knapp 25, als er diesen Eintrag in seinem Gefangenentagebuch verfasste. Ein Schriftsteller war er noch nicht, zitierte aber gerne Dante und Vergil. Seine Artikel für die Lagerzeitung der Italiener gefielen ihm selber nicht. Aber sein Tagebuch ist im doppelten Sinne eine Quelle seiner Autorschaft, die ihn - vor allem mit den Romanen "Die grässliche Bescherung in der Via Merulana" (1957) und "Die Erkenntnis des Schmerzes" (1963) - zu einem der weltliterarisch bedeutsamen Repräsentanten der italienischen Moderne werden ließ.

Eine Quelle im doppelten Sinne, weil dieses Tagebuch sowohl die Erfahrung festhält, die am Ursprung der Autorschaft Gaddas steht, wie den Versuch, eine Sprache für diese Erfahrung zu finden, die sich in einem Ortsnamen verdichtet: Karfreit. An diesem Ort an der Alpenfront im heutigen Slowenien, italienisch Caporetto, hatte Italien in der 12. Isonzoschlacht im Spätherbst 1917 eine der großen Niederlagen des Ersten Weltkrieges erlitten. Sie war so groß und verlustreich, dass sie stärker in die Nachkriegszeit ausstrahlte als der Umstand, dass Italien am Ende zu den Siegermächten gehörte. Und auch dieser "Sieg" hatte längst nicht erbracht, was sich die Protagonisten des Großmachtstrebens beim Eintritt in den Krieg vor 100 Jahren, am 23. Mai 1915 erhofft hatten.

Mit welcher propagandistischen Verve die Futuristen und der Dichter Gabriele d'Annunzio nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs die Neutralitätspolitik Italiens attackierten und dann die Kriegserklärung an Österreich-Ungarn forderten, ist auch in Deutschland nicht unbekannt. Weniger bekannt ist, wie die Niederlage von Caporetto zu einem Schlüsselsymbol der italienischen Nachkriegskultur wurde. Curzio Malaparte, Jahrgang 1898, deutete die Auflösungserscheinungen im italienischen Heer als Generalstreik der Infanteristen - und näherte sich dem Faschismus an. Auch Gadda, der bei Caporetto in Gefangenschaft geraten war, trat 1921 der faschistischen Partei bei. In seinen Tagebüchern aus dem Celle-Lager lässt sich der Versuch nachlesen, der Kriegsbegeisterung und dem Aufschwung der italienischen Nation noch am Tiefpunkt der Desillusionierung treu zu bleiben.

Wie Gadda wurde der Arztsohn und Jurist Ugo Betti (1892-1953) in der "Ödnis des deutschen Sandes" - so nannte Gadda das Celle-Lager - zum Autor. Bonaventura Tecchi (1896-1968), auch er als Kämpfer der "Alpini" in Gefangenschaft gekommen, später einer der bedeutenden Germanisten Italiens, begann hier seinen Roman "Der Name im Sand" (1924) zu schreiben. Gaddas und Tecchis Aufzeichnungen sind nun erstmals auf deutsch zu lesen, freilich eingebettet in eine Edition, die sich zwischen Einordnung der Tagebücher in den italienischen Kontext und Einordnung in die Lokalgeschichte des Celle-Lagers nicht recht entscheiden mag. Aber gut, dass es die Texte jetzt gibt.

© SZ vom 21.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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