"Erschütternde Wahrheit" im Kino:Held ohne Widersacher

Kinostart - 'Erschütternde Wahrheit'

Brisantes Thema, aber die Emotionen schlagen nicht allzu hoch: Will Smith (rechts) und Alec Baldwin in "Erschütternde Wahrheit".

(Foto: dpa)

Will Smith deckt in "Erschütternde Wahrheit" einen Skandal in der US-Football-Liga auf. Eine Anklage der realen Missstände in der NFL schafft der Film aber nicht - wegen der vorauseilenden Selbstzensur Hollywoods.

Filmkritik von Jürgen Schmieder

Es stimmt etwas nicht mit diesem Film. Etwas fehlt, doch es dauert bis zu einer Szene gegen Ende, bis der Zuschauer bemerkt, was es ist.

Der Gerichtsmediziner Dr. Bennet Omalu (Will Smith) hat genügend Gehirne verstorbener Footballspieler obduziert, um der Welt eine "Erschütternde Wahrheit" zu präsentieren: Er kann den Zusammenhang zwischen Zusammenstößen auf dem Spielfeld, den daraus resultierenden Gehirnerschütterungen und der degenerativen Nervenkrankheit CTE beweisen.

Es gibt keinen Antagonisten

Es ist ein Skandal für die Football-Profiliga NFL, womöglich für den gesamten amerikanischen Sport. Omalu wird auf einem Kongress aber untersagt zu sprechen. Denn es gibt niemanden, den der verzweifelte Mediziner persönlich anklagen könnte. Was diesem Film fehlt, das ist ein Bösewicht, ein Antagonist, der die Gegenseite zum guten Arzt verkörpert.

Freilich gibt es ein paar Gegenspieler: der Kollege, der diese Sportart so sehr liebt, dass er Omalu an Untersuchungen hindern will. Der ehemalige Spieler, der nun kollaboriert und alles nicht wahrhaben will. Der NFL-Arzt, der nur seinen eigenen Kopf retten möchte und nicht die Köpfe der verletzten Spieler. Diese kommen jedoch allesamt derart blutleer daher, dass man sich bereits am Ende des Films kaum mehr an sie erinnert.

Will Smith darf als Omalu deshalb immer wieder bedeutungsschwanger aus dem Fenster blicken, entschlossen Treppen hinaufmarschieren und irgendwann sogar eine Wand einreißen. Er kann aber gegen niemanden anspielen, er darf nicht an einem Gegenspieler wachsen, und ohne Nemesis fehlen diesem Sportlerdrama die wirklich dramatischen Momente.

Es wäre zu einfach, Regisseur und Drehbuchautor Peter Landesman vorzuwerfen, dass er den Halunken schlicht vergessen hat. Es ist vielmehr so, dass er auf diesen Bösewicht aus politischen Gründen verzichten musste.

Durch den Hackerangriff auf die Produktionsfirma Sony Pictures im Jahr 2014 wurden zahlreiche E-Mails veröffentlicht, darunter auch zu diesem Film. Die damalige Sony-Chefin Amy Pascal etwa warnte ihre Untergebenen: "Wir müssen uns einig sein, was wir uns erlauben können und was nicht. Nirgends ist das Gewässer so prekär wie in diesem Fall." Später hieß es in einer anderen Mail, dass "wenig schmeichelhafte Elemente für die NFL" aus dem Film entfernt worden seien.

Ein-Mann-Naturgewalten prallen aufeinander

Derartige Einschränkungen sind für einen Filmemacher freilich schrecklich - zumal der Film durchaus starke Momente hat: dieses einzigartige Geräusch etwa, wenn zwei trainierte Athleten mit voller Geschwindigkeit aufeinanderprallen, der schmerzerfüllte Schrei und die Ein-Mann-Naturgewalt, die danach benommen vom Feld torkelt.

Schneller Schnitt zu eben jenem Spieler, wie er 20 Jahre später an Gedächtnisschwund und Depressionen leidet, wie er zu einem aggressiven Monster mutiert und zu einer Gefahr für sich und andere wird.

Die amerikanische Football-Liga nahm Verletzungen ihrer Athleten aus Profitgier in Kauf

Der Film entfaltet eine gewaltige Kraft, er vermittelt auch eine Botschaft: Da hauen sich erwachsene Menschen Woche für Woche auf dem Spielfeld die Köpfe ein - wie naiv seid Ihr eigentlich alle, dass Ihr jahrelang geglaubt habt, dass das nicht gefährlich ist?

Doch wie die NFL und die Ärzte verzichtet der Film auf eine Anklage der Fans, die krachende Zusammenstöße frenetisch bejubeln. All dem geht dieser Film aus dem Weg - wie auch der Frage, ob die NFL bereits vor den Entdeckungen Omalus von den Zusammenhängen und den Gefahren für ihre Spieler wusste.

Der Film verzichtet darauf, eine wirksame Anklage gegen die NFL zu sein

"Erschütternde Wahrheit" hätte eine Anklage gegen eine Liga sein können, der aus Spektakelsucht und Profitgier die Gesundheit ihrer Athleten völlig egal ist und die sogar Selbstmorde billigend in Kauf nahm.

Vor zwei Jahren hat die NFL einer Einigung zugestimmt, nach der sie insgesamt 765 Millionen Dollar an ehemalige Akteure bezahlte - jedoch keine Verantwortung für die Verletzungen übernehmen und niemals zugeben muss, dass es einen Zusammenhang zwischen Football und diesen Erkrankungen gibt. Sie hat sich freigekauft.

Dieses Detail wird - in für die Liga deutlich schmeichelhafteren Worten - im Epilog versteckt. Wenn ein Drama allerdings aus politischen Gründen auf den Bösewicht verzichtet und seine Botschaft nicht in den zwei Stunden vor dem Abspann vermitteln darf, dann ist dieser Film einfach nur gescheitert.

Concussion, USA 2015 - Regie und Buch: Peter Landesman. Kamera: Salavtore Totino. Mit: Will Smith, Alec Baldwin. Sony, 123 Minuten.

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