Eröffnungsfilm in der Kritik:Überzuckerter Schneekuchen

Marc Evans' Eröffnungsfilm "Snow Cake" zeigt den Liebenswerten-Marotten-Autismus, eine Krankheit, die wohl speziell für Berlinale-Eröffnungsfilme erfunden wurde.

Tobias Kniebe

Der Eröffnungsfilm der Berlinale, so scheint es, wird vor allem wegen seiner Schauspieler ausgewählt - und wegen der Wirkung, die sie auf dem roten Teppich haben. Sie müssen die richtige Mischung aus Glamour und Ernsthaftigkeit bieten.

weaver kosslick, rtr

Dieter Kosslick und sein Star Sigourney Weaver.

(Foto: Foto: Reuters)

Joseph Fiennes und Jude Law waren hier schon Vertreter sensibler Männlichkeit, Cate Blanchett und Kristin Scott Thomas die prototypischen Frauen. Seit Dieter Kosslick den Eröffnungsteppich einmal fast alleine abschreiten musste, kommen launische Superstars jedenfalls nicht mehr in Frage, selbst wenn sie die sonstigen Bedingungen erfüllen.

Snow Cake", die diesjährige Startvorstellung, war dagegen ideal: Mit Alan Rickman und Sigourney Weaver nicht zu prominent besetzt, aber doch mit gewissem Sexfaktor. Auch die Mischung der beiden versprach eine Balance zwischen Royal Shakespeare und Hollywood.

Höchst enervierend

"Soweit die Theorie, die Praxis sieht anders aus. Kaum ist der Eröffnungsflop des letzten Jahres im Nichts verschwunden, muss man sich schon wieder bemühen, ein höchst enervierendes Werk aus dem Gedächtnis zu verdrängen.

Es beginnt mit der Geschichte vom quasselfreudigen Späthippiemädchen und dem schweigsamen, höflichen, möglicherweise gefährlichen Einzelgänger, getrennt durch ein halbes Leben schlimmer Erfahrungen. Alan Rickman ist schweigsam, höflich und sicher auch gefährlich, und neben ihm agiert eine junge Schauspielerin namens Emily Hampshire, die ihn offenbar als Tramperin ein quer durchs winterliche Kanada begleiten wird.

Gerade fragt man sich, wie Sigourney Weaver überhaupt noch in diese Konstellation passt, da wird das junge Ding von einem Holztransporter erfasst und auf der Stelle getötet. Weiter geht es zu ihrer trauernden Mutter (Sigourney Weaver).

Überzuckerter Schneekuchen

Nur trauert diese Mutter nicht wirklich, sie ist nämlich Autistin. Neben der Fähigkeit, dem Tod der Tochter erstaunlich gefasst zu begegnen, äußert sich ihre Krankheit so: Sie trägt verwaschene Sweatshirts, lässt niemanden in ihre Küche und braut dort Späthippie-Tee; sie füttert ihrem Hund Bananen und isst selbst gern Schnee aus dem Garten, was ihr nach eigener Aussage ein quasi-orgasmisches Lustgefühl verschafft.

In Momenten der Freude tanzt sie zu mexikanischem Hiphop umher, und schenkt man ihr eine elektrisch leuchtende Kirmeskugel, bekommt ihr Gesicht den Ausdruck eines staunenden Kindes.

Eine hemmungslose Oscar-Bewerbung

Abgesehen davon aber kann sie gut auf sich selbst aufpassen und sogar einer Arbeit nachgehen, was man laut "Snow Cake" wohl als "hochfunktionalen Autismus" bezeichnet. Besser wäre allerdings der Ausdruck "Liebenswerter-Marotten-Autismus", eine Krankheit, die wohl speziell für Berlinale-Eröffnungsfilme erfunden wurde.

Alan Rickman wandelt sich an dieser Stelle vom schweigsamen und gefährlichen Einzelgänger zur talentierten Nachwuchs-Pflegekraft, warum auch immer. Die urbritische Ungläubigkeit in seinem Blick, sein Staunen über die Abgründe der Menschen im allgemeinen und die vorliegenden Drehbuchdialoge im Besondern verschafft "Snow Cake" seinen einzigen wahren Unterhaltungswert.

Aber selbst dieser Spezialeffekt wird am Ende vom Regisseur Marc Evans zerstört, einem Waliser mit Erfahrung im psychologischen Genrekino, der hier wohl die Chance sieht, emotional in die Vollen zu gehen und eine hemmungslose Hollywood-Bewerbung abzugeben.

Jedenfalls gibt es sehr viel Umarmungen und große Erkenntnisse für das Leben, zur Verzeihung ausgestreckte Hände, Tote, die aus dem Jenseits herüberlächeln, Poesie vor Sonnenuntergängen und anderen Stoff, den man im Kontext einer Berlinale nur als "ultrahart" bezeichnen kann.

Es ist also, wie schon vor einem Jahr, Schulterzucken, Abhaken und Nach-Vorn-Blicken angesagt - aber es wird mindestens drei brillante Vergewaltigungsdramen brauchen, um diesen überzuckerten Schneekuchen zu verdauen.

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