Nachruf auf Erna de Vries:Meine Zirkusfreundin Erna

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Es war einmal: Oliver Polak und Erna de Vries 1985 vor der Isaakskathedrale in St. Petersburg. (Foto: privat)

Für sehr viele Menschen war Erna de Vries "Die Auschwitzüberlebende" und eine der allerletzten Zeugen der Wahrheit. Für mich war sie wie eine Tante.

Gastbeitrag von Oliver Polak

Am Sonntagmorgen werde ich von einer Whatsapp-Nachricht meiner Mutter geweckt "Eine traurige Nachricht, heute ist Erna gestorben. Sie ist 98 geworden, eine der allerletzten Zeugen der Wahrheit." Am Ende des Satzes hat meine Mutter noch ein Davidstern-Emoji hinzugefügt.

Tante Erna. Meine Zirkusfreundin Erna. Sie war so etwas wie eine Tante für mich, obwohl sie gar keine Tante war, also nicht meine.

Wir jüdischen Familien im Emsland, wir waren eine große Familie, obwohl wir es genau genommen nicht waren. Aber wir waren wenige. Wie Pandabären. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte es zehn jüdische Männer, um einen Gottesdienst abzuhalten, den Minjan, so steht es in der Thora. Und so kam es, dass die emsländischen Juden an jedem Wochenende nach Osnabrück fuhren, um den Minjan zu stellen.

Tante Erna aus Lathen mit ihrem Ehemann, mein Vater aus Papenburg, weitere jüdische Familien aus dem Emsland. Diese Generation raufte sich nach dem Krieg zusammen, um noch mal neu zu leben. Jüdisches Leben zu ermöglichen in einem Land, in dem man die Juden hasste. In einer Gegend, in der jeder jeden kannte.

Tante Erna, geboren in Kaiserslautern, begleitete 1943 ihre Mutter freiwillig ins KZ Auschwitz. Da war sie 19. Ihr Vater war zuvor verstorben.

Die letzten Worte von Ernas Mutter: "Du wirst leben und allen erzählen, was sie mit uns gemacht haben."

Tante Erna erzählte mir zu Lebzeiten, dass alle ausländisches Radio hörten und sie genau wussten, was Auschwitz ist. Und was dort passierte. Sie wollte ihre Mama trotzdem nicht alleinelassen, wich nie von ihrer Seite. In Auschwitz wurden sie dann getrennt. Das Letzte, was Ernas Mutter ihr sagte, war. "Du wirst leben und allen erzählen, was sie mit uns gemacht haben."

Sie sah ihre Mutter nie wieder, wurde selbst in den Todesblock 25 delegiert, wo sie kurz vor ihrer Vergasung von einem SS-Mann aus der Gruppe geholt wurde, da sie einen christlichen Vater hatte und sogenannter jüdischer Mischling war. Sie wurde nach Ravensbrück verlegt, wo sie auf dem Todesmarsch von den alliierten Soldaten befreit wurde.

Ich war klein, Erna war groß. Sie trug mich acht Tage nach meiner Geburt in Aschendorf zur Beschneidung. Dies ist nach der Thora der Mutter untersagt. Es muss aber eine jüdische Frau sein, und sie war die einzige im weiten Umkreis. Immer wenn sie später zu Besuch kam, ich lebte in Papenburg, sie im 20 Kilometer entfernten Lathen, wollte ich bei ihr sein. Bat sie, nachdem sie mit den Erwachsenen Kuchen gegessen hatte, in mein Zimmer. Wo ich alles vorbereitet hatte. Ich sieben Jahre alt, sie 60. Ich spielte ihr mit meinem selbstgebauten Playmobil-Zirkus Nummern vor. Sie saß dann wie eine gleichaltrige Spielfreundin da und war begeistert. Mein Blick fiel immer wieder auf die Nummer auf ihrem Unterarm. Obwohl es mir niemand erklärt hatte, verstand ich es. Es war dieses Fühlen, mitfühlen. Ich war umgeben von diesen Leuten. Ich bin mit ihnen erwachsen, aufgewachsen, zusammengewachsen.

Einmal reisten wir sogar gemeinsam mit meiner Mutter nach Leningrad, wo sich Erna mit meiner russischen Oma anfreundete.

Ich werde den Tag nicht vergessen, als sie mich mit ihrem mintgrünen Mercedes 280E und ihrem Neffen auf dem Rücksitz abholte und wir gemeinsam in den Circus Krone gingen, der in Apenburg gastierte. Erna kaufte mir an diesem Tag mein erstes Cornetto-Eis.

Als Erna unten an der Haustür klingelte, hatte ich meinen Kassettenrekorder im Flur aufgebaut und spielte ihr stolz den Hit "Erna kommt" von Hugo Egon Balder vor. Gefiel ihr.

Ihr gefiel eh vieles.

Nie ging man, ohne dass sie einem noch etwas zum Essen mitgab

Erna war dem Leben zugewandt. Sie hatte in ihrem Garten ein Vogelhäuschen und eine Vogeltränke, wo sie den Flügeltieren gerade im Winter täglich geröstete Nüsse und Wasser bereitstellte. Ihr liefen in den letzten Jahren immer wieder Katzen zu. Ehrenamtlich arbeitete sie für die Bibliothek, wo sie Bücherberge mit nach Hause nahm, um sie zu beschriften. Sie wirkte friedvoll, wie sie auf ihrem Sofa saß, die Katze meist neben ihr. Es war all so quiet. Ihre warme, ihre liebevolle Art. Nie ging man, ohne dass sie einem noch etwas zum Essen mitgab. In der Weihnachtszeit selbstgebackene Neujahrskuchen, und sonst auch einfach mal eine Tafel Schokolade. Tante Erna hatte zwei Süßigkeitenschränke, einen kleinen und einen wirklich großen.

Zeitzeugenschaft als Lebensaufgabe: Erna de Vries sprach noch im hohen Alter vor Schulklassen, auf Bühnen, in Hörsälen. (Foto: Bernd Thissen/picture alliance / dpa)

Diese kleine zierliche Frau mit Brille und hochgestecktem Haar, immer akkurat angezogen, diese klare, raue, beruhigende Stimme. Sie betrat über Jahrzehnte hinweg Schulaulas, Hörsäle, Bühnen, um immer wieder über ihre, die Geschichte vieler jüdischer Menschen in Europa und das unvorstellbare Leid, das ihnen zugefügt wurde, zu berichten. Es wurde ihre Lebensaufgabe, ihr Versprechen an die Mutter. Nie anklagend, mit der Sehnsucht nach Frieden.

Lathen im Emsland, die Entscheidung, mit ihrem Ehemann, der früh verstarb, dort zu leben, drei Kinder aufzuziehen. Den sechs Enkelkindern und dem einen Urenkel beim Erwachsenwerden zuzuschauen, in einem Deutschland, dass ihr 2014 das Bundesverdienstkreuz verlieh. Ein Deutschland, in dem sich so etwas nicht wiederholen könnte.

Am Mittwoch, dem 27. Oktober, werden viele Gemeindemitglieder der Synagoge Osnabrück, die auch Du, Erna, mit Deinem Ehemann über Jahrzehnte zum Leben erweckt hast, mindestens zehn Männer, der Minjan, dein Dorf, Familie, Freunde aus der ganzen Welt, Schüler, zu denen Du in den letzten Jahren unermüdlich gesprochen hast, auf den jüdischen Friedhof nach Lathen im Emsland reisen. Um sich von Dir zu verabschieden. Erna geht. Nicht "Die Auschwitzüberlebende", nein, meine Zirkusfreundin.

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