Erinnerungskultur:"Wir dürfen die Erinnerungskultur nicht ethnisieren."

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Was haben Sie den Rekruten geantwortet?

Dass Erinnern ein Prozess ist, der zeigt, dass sich Einstellungen verändern können. Bis in die Achtzigerjahre herrschte die Sehnsucht nach dem Vergessen der belastenden Vergangenheit. Die deutsche Erinnerungskultur ist post-heroisch und bezieht die Perspektive der Opfer mit ein, und sie ist ein transnationales Projekt. Statt eines "Monologs der Schwerhörigen", wie der französische Historiker Marc Bloch die Egozentrik der auf Stolz und Ehre gegründeten nationalen Gedächtnisse beschrieb, suchen wir den Dialog mit anderen Ländern und ihren Geschichtsbildern.

Dann ist die Erinnerungskultur in Ihren Augen nicht bedroht?

Ich sehe zwei Gefahren: Neben dem Unbehagen von rechts, das sie am liebsten abschaffen möchte, droht auch ein Versiegen einer Ressource, die diese Erinnerungskultur in Gang hält in Form eines ehrenamtlichen Engagements, das weitgehend in den Händen der 68er-Generation lag. Für diese war Holocaust-Gedenken so etwas wie eine historische Mission. Ich frage mich, was bleiben wird, wenn sie einmal nicht mehr ist. Diese Gefahr ist vielleicht größer als der lautstarke Ansturm der AfD.

Viele Menschen sind nach Deutschland gekommen, die mit dem Holocaust keine eigene Familiengeschichte verbindet. Was ändert sich dadurch?

Wir dürfen die Erinnerungskultur nicht ethnisieren. Die Familienbande werden nach dem nächsten Generationenwechsel eine geringere Rolle spielen. Das Holocaust-Gedenken hat sich weiterentwickelt. Die Erinnerung ist für Deutschland mit einem ethischen Imperativ verbunden: Nie wieder darf so etwas passieren! Für die Einwanderer gibt es aber auch den direkten Weg der Empathie: Sie können sich für die Geschichten der Opfer interessieren und auch mit ihnen identifizieren.

Kulturelles Gedächtnis lässt sich aber nicht in Integrationskursen vermitteln.

Vor Kurzem erzählte mir eine türkischstämmige Studentin, sie sei in diesem Land mit der Erinnerung an den Holocaust aufgewachsen und könne deshalb ihren Vater nicht verstehen, der den türkischen Genozid an den Armeniern leugnet. Auch das ist ein Beispiel für eine positive Integration in die deutsche Erinnerungskultur.

Müsste diese sich nicht auch selbst verändern und neue Flucht- und Gewalterfahrungen aufnehmen?

Ja, das stimmt. Ich hoffe, dass wir bald Migrationsmuseen und öffentliche Orte haben, an denen die Geflüchteten ihre Geschichten erzählen. Literatur und Filme sind dafür besonders geeignet.

Die Ära der Zeitzeugen endet. Es gibt im Netz viele Videozeugnisse von Holocaust-Überlebenden. Die Shoah Foundation experimentiert sogar mit Hologrammen von Zeitzeugen, die zusätzlich zum dreidimensionalen Bild interaktiv die Fragen von Museumsbesuchern beantworten sollen.

Ich finde diese Hologramme gespenstisch. Junge Leute interessieren sich vielleicht für den Hightech-Effekt und hören sich geduldig vorprogrammierte Antworten an. Es ist aber das genaue Gegenteil eines auratischen Präsenzerlebnisses. Ein Film hingegen, ein Buch oder ein Bericht von einem "Zweitzeugen" - das sind junge Menschen, die die Geschichten von Überlebenden an Schulen erzählen - kann Erinnerung wieder in Bewegung setzen.

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