Süddeutsche Zeitung

Zwei Körper:Sprechberserker

Der Erinnerung an den vor zehn Jahren gestorbenen Lyriker Thomas Kling hat dieser selbst schon mit seinen Performances vorgearbeitet - präposthum gewissermaßen. Eine Erinnerung an die zwei Körper des Dichters.

Von Hubert Winkels

Selten kann man die ganze Ambivalenz der Verwandlung eines intensiven, heftigen Dichterlebens in einen philologischen Textkörper so schmerzhaft, aber auch so deutlich erleben wie im Falle von Thomas Kling. Das liegt daran, dass sich der Schriftsteller als "Sprech-Steller" erfunden hat. Bei einem ersten Kling-Kongress, 2012 auf der Raketenstation in Neuss-Holzheim, unter dem Kling-Wort "Vom Gellen der Tinte", sieben Jahre nach seinem frühen Tod, ging mir schlagend auf, wie ein Textkorpus sich über einem realen, physisch-sozialen Körper aufrichtet, sich dessen bedient, sich von ihm nährt, vom Dichter als leibhaftiger Raumverdrängung, als starkem und schneidend-scharfem Redner, und dann in einer lang gezogenen Substitutionsbewegung etwas Neues an die Stelle setzt. Die parasitäre Schrift, die Ursprung sein will. Eine Weile gibt es noch beides, die zwei Körper des Dichters. Verwandte, Bekannte, Freunde kultivieren den Doppelcharakter in erzählerischer Vergegenwärtigung. Anekdotisch eher, manchmal in Zitaten. Doch die Verwandlung umfasst auch diese Bilder und Töne, die szenische Erinnerung wird selber Text, der es an Genauigkeit mit dem philologischen Text auf die lange Strecke nicht aufnehmen kann, nicht jedenfalls in unserer wissensbasierten, Wissen beschwörenden Kultur. Es müsste denn Kulträume der Erinnerung geben, in denen momentweise Realpräsenzen erzeugt werden. Auch zu diesem obskuren schönen Zweck hat Thomas Kling selbst en avant beigetragen - wie einst sein Landsmann aus Bingen, Stefan George -, indem er Performances eingeübt, aufgeführt und wiederholt hat, stimm- und leibhaft, die einen eigenen linear nur schwer zu vereinheitlichenden Raum bilden. Diejenigen, die zu diesem Raum unmittelbar Zugang hatten, werden weniger. Einen Eindruck vermittelt das neue Hörbuch "Die gebrannte Performance", wo ein Prozesse fixiert wird. Die letzte Nachlasspublikation hieß umgekehrt "Das brennende Archiv", wo der tote Körper in einen neuen Verwandlungsprozess getrieben wird.

Der Dichter Thomas Kling hatte ein prä-posthumes Interesse an sich selbst

Das Universitätsmuseum Bonn hat 2013 eine katalogbegleitete Ausstellung zu Thomas Klings Arbeitsweise am Beispiel seiner beiden "Manhattan Mundraum"-Zyklen veranstaltet, die wiederum die seit vier Jahren eingerichtete Bonner Thomas-Kling-Poetikdozentur flankiert. Unternehmungen solcher Art haben Anteil am Weiterleben des Schriftstellers als Name, Ikone, Teil des Kanons, sie können sich im Fall von Thomas Kling auf dessen präposthumes Interesse an sich selbst stützen. Denn Thomas Kling hat seinen späteren Archivaren, den texthistorischen Rechercheuren, Konjekturalisten und intertextuellen Bastlern zugearbeitet, gar mit System; wozu nicht zuletzt auch die explizite Verrätselung von Entstehungs- und Produktionszusammenhängen gehört, bei gleichzeitiger heiterer Aufforderung, sie zu suchen.

Und trotzdem tut es weh, trotzdem hört man es klingen. Vor jedem Sinn ging es ihm um Redeweisen, um Wörter im Gebrauch. Der Dialekt der niederrheinischen Landbevölkerung war ihm so teuer wie der neueste Szeneslang oder die wissenschaftliche Fachsprache. Sie waren dem Ortstreuen Trost- und Erkenntnismittel zugleich. Er hörte sich durch die farbigen Sprachbilder durch bis in eine Frühzeit, er las die Lebensumstände der Menschen in Umlauthäufungen, verschliffenen Endungen und gezischten S-Lauten.

Fast sein ganzes Leben hat Thomas Kling am südlichen Niederrhein verbracht. Seine letzten zehn Jahre auf der Raketenstation, Teil des Hombroicher Kunstareals. Seltsamerweise teilte ich mit Thomas Kling fast alle Lebensorte, viele meiner Verwandten liegen neben ihm auf dem Holzheimer Friedhof. Gerne sind wir spontan ins Platt gerutscht, den Dialekt dort rund um den Friedhof. Es tat einfach gut. Und tut es immer noch: "Leve Jong, wo bess du dann jetz? Wat määsse? Un wohin jeesse?"

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SZ vom 31.03.2015
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