Erfolgsroman "Gute Leute":"Wir müssen uns für Palästinenser öffnen"

Nir Baram wird als die neue Hoffnung der israelischen Literatur gefeiert. Das nimmt er gelassen zur Kenntnis - ganz im Gegensatz zur "Propaganda der Furcht", die von der Regierung Netanjahu betrieben wird. Sein neuer Roman spielt in einer vollkommen anderen Perspektive, als man dies von einem israelischen Autor gewohnt ist.

Peter Münch

Über Politik müsste man reden mit Nir Baram, über Literatur sowieso, aber erst einmal soll es um Fußball gehen. "Ich habe ein Tor für Israel geschossen gegen die deutsche Autoren-Nationalmannschaft", sagt er, grinst halb stolz, halb spöttisch, und die Augen funkeln wie sie immer funkeln, wenn er einen Treffer gelandet hat. 2008 war das, und Nir Baram lässt wissen, dass er Israel bestens vertreten habe auf dem grünen Rasen.

Erfolgsroman "Gute Leute": Nir Baram, israelischer Bestsellerautor. Sein neuer Roman "Gute Leute" erscheint jetzt auf Deutsch.

Nir Baram, israelischer Bestsellerautor. Sein neuer Roman "Gute Leute" erscheint jetzt auf Deutsch.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Dabei hätte man diesem schlaksigen 35-Jährigen mit den dunklen Ringen unter den Augen die Sportlerseele auf Anhieb gar nicht zugetraut, wenn man ihn in seiner Tel Aviver Wohnung sieht mit all den Büchern und dem Laptop, der zentral im Wohnzimmer thront. Doch in der Welt der Literatur, in der er lebt, ist Platz für vieles - für Sport, für Politik, für menschliche Höhen und Abgründe, für die Gegenwart, Vergangenheit und die Zukunft.

Nir Baram mag die Enge nicht, er mag kein Schubladendenken und keine Erwartungen, die er erfüllen soll - und deshalb wohl hat er auch einen Roman geschrieben, der in einem anderen Kontinent spielt, in einer anderen Zeit und mit einer anderen Perspektive, als man dies von einem israelischen Autor gewohnt ist. Sein Debüt "Purple Love Story" beschreibt noch die Welt der jungen Leute in Tel Aviv; im "Wiederträumer" erlebt diese funkelnde Stadt, in der er lebt, die Apokalypse. Nun hat er einen historischen Roman verfasst, der in den Zeiten der Nazi- und der Stalin-Diktatur spielt. "Ich war auf einen Fehlschlag vorbereitet", sagt er - und dann wurde es ein großer Erfolg. Auch das nimmt er mit Gelassenheit zur Kenntnis.

In einem Dutzend Ländern ist "Gute Leute" mittlerweile erschienen, Ende August auch auf Deutsch bei Hanser. Nir Baram wird als die neue Hoffnung der israelischen Literatur gefeiert, die Alten haben ihm längst den Ritterschlag verpasst. Abraham B. Yehoshua nennt sein jüngstes Werk einen "Meilenstein für unsere Literatur", Amos Oz lobte "Begabung, Wucht und Brillanz" und spricht von "neuen Landschaften", die der Autor erschlossen habe.

Stützpfeiler des Verbrecherregimes

Diese neuen Landschaften erlebt Nir Baram selbst als Reich der Freiheit. Denn er hat die im Westen stets präsente Vorstellung hinter sich gelassen, dass israelische Romane immer etwas über den notorischen Nahostkonflikt erzählen müssen. "Gute Leute" also spielt in Berlin und in Leningrad, in Warschau und Lublin, mit einem furiosen Finale in Brest-Litowsk . Und neben der geografischen hat er auch noch eine andere Grenze überschritten, die von der allgemeinen Erwartung für israelische Autoren gezogen wird: Es ist ein Roman aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, aber keiner über den Holocaust.

Hauptfiguren sind der Deutsche Thomas Heiselberg und die Russin Alexandra "Sascha" Weißberg. Der eigentlich unpolitische junge Thomas stellt sich aus Geltungs- und Erfolgssucht in den Dienst des Nazi-Regimes, Sascha macht sich zum Werkzeug des Stalin-Terrors und verrät die Freunde ihrer Eltern, um sich selbst und vielleicht auch ihre Brüder retten zu können. "Faszinierend sind doch die ganz normalen Leute", sagt Nir Baram. "Wir können die Hitlers und die Himmlers loswerden, aber die Speers werden immer bleiben." Um die Karrieristen geht es also, um die Verkäufer ihrer eigenen Seelen, die aus allerlei Motiven zu den Stützpfeilern der Verbrecherregimes werden.

Der Leser soll für sich selbst denken

Mit diesen beiden Hauptfiguren wirft Nir Baram zumindest aus israelischer Sicht einen neuen Blick auf die alte Zeit, und es ist ein Blick mit ebenso großer Wucht wie Präzision. Vier Jahre hat er an diesem Roman gearbeitet, neben dem Bett stand stets der Laptop, weil sonst die besten Ideen am Morgen verloren gewesen wären. An alle Schauplätze ist er gereist und mehr als hundert Bücher hat er über die Kriegszeit verschlungen. "Du musst das alles lesen", sagt er, "und dann musst du es vergessen, wenn du den Roman schreibst, sonst wird es eine Forschungsarbeit". Fakten und Fiktionen hat er verwoben, um schließlich "durch die Charaktere etwas Neues in den Diskurs über den Zweiten Weltkrieg zu bringen".

Das Neue ist die Perspektive auf Übeltäter, die nicht verurteilt werden, sondern sich entwickeln. "Ich wollte komplexe Charaktere", sagt er, "ich wollte, dass es schwierig ist zu sagen, ob Thomas gut ist oder böse." Der Leser soll für sich selbst denken und entscheiden. "Literatur passiert in den Zwischenräumen zwischen Autoren-, Leser- und Personenperspektive", meint Nir Baram.

Alternativen zu den Sackgassen des Friedensprozesses

Die Parallelstruktur des Romans, die auch als Vergleich des Nazi- mit dem Stalin-Terror verstanden werden kann, stellt für ihn keinerlei Problem da. Er hält eine solche Problematisierung wohl eher für eine Eigenart der Deutschen, die auf der absoluten Unvergleichlichkeit der im eigenen Namen begangenen Gräueltaten bestehen. "Wir vergleichen den Holocaust mit allem", sagt er, "und eines der gefährlichsten Dinge ist es doch, ihn aus der Geschichte herauszuholen." Denn dann käme man am Ende zu der Einschätzung, er wäre so singulär, dass er nie mehr wieder passieren könne.

Dabei ist gerade in diesen Tagen in Israel immer wieder von einem neuen Holocaust die Rede, von einer existenziellen Bedrohung durch das iranische Atomprogramm. Auch dazu will und kann Nir Baram nicht schweigen, denn als politischer Aktivist ist er in Israels öffentlichen Debatten fast genauso präsent wie als Literat. Mit scharfen Worten also stellt er sich gegen den Kriegskurs von Premierminister Benjamin Netanjahu und verurteilt dessen Politik als "Propaganda der Furcht".

Hier, im politischen Engagement, steht Nir Baram nahtlos in der Nachfolge der älteren Generation um Oz, Yehoshua und David Grossmann. "In Israel waren die Autoren immer schon eine Mischung aus Schriftsteller und politischen Predigern", erklärt er. Obendrein aber steht er auch noch in einer weiteren Tradition. Denn sowohl sein Vater als auch der Großvater hatten für die Arbeitspartei Ministerämter inne in israelischen Regierungen. "Ich hatte nie die Option, nicht in die Politik verstrickt zu sein", meint er, "ich fühle die Verpflichtung und hatte keine Wahl."

Ob es also um den Friedensprozess mit den Palästinensern geht oder um die Sozialproteste wegen der schwindelerregend hohen Lebenshaltungskosten - Nir Barams leise, aber eindringliche Stimme ist stets zu hören im Getöse. Sein Lieblingsthema ist die "israelische Identität". Die alten Kategorien des Zionismus hält er für überholt, die Definition Israels als jüdischer Staat mittlerweile gar für gefährlich. "Wir müssen uns öffnen für Palästinenser ebenso wie für die Kinder von kolumbianischen Einwanderern", fordert er. "Ich will nicht in einem jüdischen Getto leben."

Literatur als Kampfbühne

Von den Intellektuellen fordert er, dass sie Alternativen entwickeln zu den Sackgassen des Friedensprozesses, als Schriftsteller sieht er sich in der Pflicht, sein Land zu verändern. "Frustrierend ist das schon oft", räumt er ein, "aber ich kann es mir nicht leisten, die Hoffnung zu verlieren, dass es besser wird in Israel." Die Literatur bietet ihm die Plattform für diesen politischen Kampf, aber sie öffnet ihm auch eine Fluchtmöglichkeit. "Es ist befreiend, das man nicht nur über Israel schreiben muss", sagt er, "wir reden hier über die Freiheit der Literatur."

Der nächste Roman spielt wieder vor dem Hintergrund eines Völkermordes, diesmal in Ruanda. Doch Israel, so viel verrät er, kommt auch darin vor.

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