Fünf Favoriten der Woche:Mahler mit 85?

"Mulholland Drive", der Weihnachtssong von "Erdmöbel", "Rheingold" in Bern, die finnische Band "Lordi" und Zubin Mehta. Die Empfehlungen der Woche.

Von Autorinnen und Autoren der SZ

Fünf Favoriten der Woche: Die berühmteste Straße von Los Angeles, wie sie bei David Lynch aufleuchtet.

Die berühmteste Straße von Los Angeles, wie sie bei David Lynch aufleuchtet.

(Foto: Arthaus DVD)

Auf dem "Mulholland Drive"

Ein Straßenschild, kurz erhellt von Scheinwerfern: "Mulholland Drive". Ein Cadillac gleitet vor uns in die Nacht, eine gewundene Straße entlang: rotglühende Rückleuchten, Lämpchen am Nummernschild, ansonsten Finsternis. Dazu ein paar getragene, tief vibrierende Orchesterakkorde von Angelo Badalamenti - ein Einschlaflied für den wachen Verstand. Hier fährt jemand durch die Hügel von Los Angeles, einem dunklen Schicksal entgegen, im Tal blinken die Lichter. David Lynch ist in Hollywood angekommen. Was er uns dort zeigt, ist noch genauso seltsam hypnotisch wie vor zwanzig Jahren, als "Mullholland Drive" seine Kinopremiere hatte. Jetzt restauriert in einer Auflösung, die alles zwar schöner und schärfer, die Rätsel aber nicht einfacher macht. Zum Glück. (Arthaus) Tobias Kniebe

Fünf Favoriten der Woche: Die große Zaubershow in drei Minuten: "Der große Dezember" von "Erdmöbel"

Die große Zaubershow in drei Minuten: "Der große Dezember" von "Erdmöbel"

Der große Dezember

Die Vorweihnachtszeit beginnt immer dann, wenn Erdmöbel ihr neues Jahresendvideo hochladen. Jedenfalls ist das seit 2006 so, seit die Kölner Band "Weihnachten ist mir doch egal" veröffentlichte, die weltweit beste Coverversion von Whams "Last Christmas". Seither also glitzert das Internet irgendwann im Dezember plötzlich voller Wärme, Witz und Wehmut. Das Ganze hat solchen Kultcharakter angenommen, dass Erdmöbel mittlerweile mit ihren Weihnachtssongs im Dezember auf Deutschlandtour gehen - schöner kann man den Advent nicht feiern. Dieses Jahr kommt Omikron dazwischen, alles ist kalt, einsam und dunkel, aber da geht plötzlich das Licht an: "Der große Dezember", eine Art musikalischer Zaubertrick, eine Feier der Illusion, man muss ja nur mal kurz blinzeln, schon wird das schnöde Wohnzimmer zur großen Manege und der Alltagsklang zum Song dieses Winters. Alex Rühle

Lordiversity

Fünf Favoriten der Woche: Hatten im Lockdown wenig Freizeit: Die immer als Monster verkleideten Mitglieder der finnischen Hardrock-Band "Lordi".

Hatten im Lockdown wenig Freizeit: Die immer als Monster verkleideten Mitglieder der finnischen Hardrock-Band "Lordi".

(Foto: Jouni Porsanger/picture alliance/dpa/LEHTIKUVA)

Ein besonderes Beispiel für die, wenn man so will, vorbildliche Nutzung der Zeit im Lockdown kommt aus Finnland, von den Schock-Rockern Lordi. (Nicht verwechseln mit der Popsängerin Lorde, die auch gerne provoziert, aber auf der Bühne, im Gegensatz zu Lordi, keine Latexmasken trägt.) Die Band, die 2006 mit "Hard Rock Hallelujah" überraschend den Eurovision Song Contest gewann, hat während Corona nicht eines, sondern sieben (ja, sieben, in Ziffern: 7) Alben geschrieben, aufgenommen und veröffentlicht, insgesamt fast fünf Stunden Musik. "Wir hätten leicht zehn Alben machen können - ohne Problem", verriet Chefmonster und Sänger Mr. Lordi dem Classic Rock Radio. Da sei dann aber doch die Plattenfirma eingeschritten.

Der eigentliche Witz bei dem "Lordiversity" betitelten Projekt ist aber nicht der Umfang: Jedes der Alben hat auch einen anderen Stil, von Disco bis Heavy Metal. Sogar ein Weihnachtssong ist dabei. (Die Alben werden nach und nach bei Streamingdiensten veröffentlicht und sind als Boxset erhältlich.) Dieses Konzept hatte die Finnen schon 2020 auf dem fiktiven Best-of "Killection" (die Band hat eine Schwäche für unheimlich schlechte Wortspiele) mit Songs in allen möglichen Stilen ausprobiert und den Witz nun sozusagen ausformuliert.

Das tut Witzen meistens nicht gut, funktioniert hier aber wegen der irren Liebe zum Detail: Jedes Album hat ein eigenes Artwork, einen eigenen Sound und ein fiktives Erscheinungsjahr zwischen 1975 und 1995, also alles so, als hätte es die Band, deren erstes Album eigentlich 2002 erschienen ist, damals schon gegeben. Neu erfunden wird keines der Genres, aber das soll es auch gar nicht. Lordi haben sich die besten Elemente rausgepickt, von den Abba-Melodiebögen bis zu den schreddernden Gitarren und dem Luftschutzsirenengesang von Judas Priest. Wo die Satire anfängt und die Hommage aufhört? Schwer zu sagen. Vielleicht geht es den Finnen auch um etwas anderes: In Zeiten der Playlists und nervösen Streamingdienste sind sieben durchkonzipierte Alben, die auch nur als solche funktionieren, ein Statement dafür, der Musik etwas mehr Zeit zu widmen. Eine monströse Liebe zu Pop und Rock also. Aber vielleicht lag es auch einfach nur am Lockdown. Mr. Lordi: "Ohne Corona wäre das nicht möglich gewesen. Natürlich nicht." Nicolas Freund

Fünf Favoriten der Woche: "Das Rheingold", Stadttheater Bern

"Das Rheingold", Stadttheater Bern

(Foto: Rob Lewis)

Rheingoldmedaille

Ewelina Marciniak wurde 1984 in Polen geboren, erhielt vergangenes Jahr den "Faust"-Preis, inszeniert im kommenden Sommer bei den Salzburger Festspielen, hat aufsehenerregende Theaterarbeiten hingelegt, und nun zum ersten Mal eine Oper inszeniert. Wagners "Rheingold" an den Bühnen Bern, sie wird den ganzen "Ring" dort machen. Was für ein Debüt, was für ein Einstieg ins Operngeschäft! Sie schafft das Kunststück, "Rheingold" rasant und geradlinig zu erzählen und gleichzeitig assoziative Räume zu öffnen, sie scheut nicht zurück vor Brutalität und kann sehr witzig sein, ihre Personenregie ist atemberaubend präzis. Marciniak baut Tänzerinnen und Tänzer ein, verdoppelt die Rheintöchter, deren Treiben für sich allein eine Schau ist. So kann es weitergehen mit dem "Ring" in Bern. Egbert Tholl

Fünf Favoriten der Woche: "Ich stelle mich auf keine Seite", sagt Dirigent Zubin Mehta. "Es sind die Menschen in der Mitte, die leiden. Lasst uns dieses Leiden beenden."

"Ich stelle mich auf keine Seite", sagt Dirigent Zubin Mehta. "Es sind die Menschen in der Mitte, die leiden. Lasst uns dieses Leiden beenden."

(Foto: Stephan Rumpf)

Mahler mit 85. Geht das?

Hochbetagt, ganz langsam, aber ohne Stock in der Hand, betritt Zubin Mehta das Podium der Berliner Philharmonie. Der 85-jährige Maestro will mit Berlins Philharmonikern Gustav Mahlers erschöpfende Dritte Symphonie mit Klang und Leben füllen. Gedruckte Noten braucht er nicht, er hat sie verinnerlicht. Nur ein paar Fragen tun sich auf.

Was bringen die großen Alten am Dirigentenpult noch zustande? Spielen sie ihr Können virtuos aus, wie einst die Methusaleme Arturo Toscanini und Leopold Stokowski, machen einfach weiter? Oder können sie, ausgereifte Genies des Taktstocks, noch Neuland gewinnen? Wie alle lebhaften Alten ruht auch Zubin Mehta, der Mann aus Bombay (Mumbai), der in Wien Kontrabass und Dirigieren lernte, zuerst mal im Übermaß gesammelter Erfahrung, die Sicherheit verbürgt. Aber die hohe Kunst des flüchtigen Augenblicks, genannt Musik, verlangt mehr: Geistespräsenz, Reaktions- und Erlebnisfähigkeit. Intensive Körperarbeit, tatsächlich sehr viel Muskelkraft. Wie man es aber im hohen Alter schafft, eine individualistisch gärende Musikertruppe, genannt Orchester, im Klang einzufangen, bleibt das Geheimnis. Suggestionszauberei gleich Charisma?

Ja, Symphonien sind charismatisch, sie versorgen die Welt mit Botschaften. Beethoven appelliert symphonisch an die Menschheit. Mahlers Dritte verwandelt Erde, Natur und Menschenschicksal in Musik. "Lass' es geschehen!", rief der alte Sergiu Celibidache bei Proben Musikern zu, um sie von der Ich-Betörung stolzen Musizierens zu befreien. Der Dirigent jenseits der achtzig analysiert nicht mehr die Notenstruktur, wie Pierre Boulez es tat, und ist kein Gefühlsvulkan wie Leonard Bernstein. Das Alter will die große Linie, Langsamkeit der Tempi, Liebe zum Detail und das tiefere Hören in die diffizilen Klangverhältnisse. Hochspannung kann auch Gelassenheit. Der Schwede Herbert Blomstedt ist mit seinen 94 Jahren heute Leuchtturm alter Zunft.

Zubin Mehta versetzt Mahler souverän in räumlich disponierte Schwingungen. Er ist noch längst nicht hundert, wie jetzt der Dokumentarfilmkünstler Georg Stefan Troller, er hat noch Zeit. Und die Abwägung des jüngeren Kollegen Paavo Järvi, "glatzköpfige Dirigenten" seien vielleicht besser, kann ihn nicht scheren. Wolfgang Schreiber

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