"Suzume" im Kino:Alarmsirenen im Märchenland

"Suzume" im Kino: Hinter dieser Tür warten eine Wiese, ein Sternenhimmel - und eine Gefahr für das ganze Land.

Hinter dieser Tür warten eine Wiese, ein Sternenhimmel - und eine Gefahr für das ganze Land.

(Foto: Wild Bunch)

Der Anime "Suzume" von Makoto Shinkai ist eine Reise in kollektive japanische Traumata.

Von Magdalena Pulz

Vielleicht war es doch ein Fehler hierherzukommen. Das 17-jährige Schulmädchen mit den langen, dunklen Haaren ist an diesem Morgen heimlich einem fremden jungen Mann gefolgt. Er hatte es nach dem Weg in einen verlassenen Stadtteil gefragt, jetzt ist Suzume hier, aber der geheimnisvolle Fremde ist nirgendwo zu sehen. Sie spaziert also in ihrer Schuluniform zwischen den verlassenen Wohnhäusern, Restaurants und Läden herum, bis sie zu den Resten eines Schwimmbads gelangt. In der Mitte eines runden Beckens steht eine Tür, die Wand, in der sie sich befand, gibt es nicht mehr.

Dahinter eröffnet sich der Blick in eine andere Welt: grasige Hügel unter einem sternenklaren Nachthimmel. Betreten kann das Mädchen diese Szenerie nicht - aber etwas kann sie verlassen. Ein gigantischer Wurm windet sich durch die Tür in Suzumes Welt, immer höher, bis zu den Wolken, dann stürzt er auf die Erde herunter. Sehen kann den Wurm nur sie, aber auch alle anderen Menschen spüren die Erschütterung des Aufpralls. Auf den Handydisplays tauchen Erdbeben-Warnmeldungen auf.

Für Japaner dürften diese Bilder und Abläufe - die Alarmsirenen, das Schutzsuchen, die Todeszahlen im Fernsehen - Teil eines kollektiven Schmerzgedächtnisses sein. Die Heimat von Makoto Shinkai, dem Regisseur von "Suzume", wird aufgrund seiner besonderen geografischen Lage auf vier tektonischen Platten etwa 1500-mal im Jahr von Erdbeben heimgesucht.

"Das Gewicht der menschlichen Gefühle" ersticke das Land, sagt der junge Mann

Es ist dieser Schmerz, die Angst vor der Natur, die Makoto Shinkai in seinen Animefilmen immer wieder erkundet. In seinem Welthit "Your Name" (2016) raste ein Komet auf die Erde zu, in "Weathering with You" (2019) gerät das Wetter außer Kontrolle. Er stellt diese Katastrophen genretypisch dar, bunt und mit fantastischen Elementen; Shinkai betont aber immer wieder, dass seine Filme vom heutigen, urbanen Japan inspiriert seien. Und dort ist die Natur als Gefahr eben höchst präsent. Seit dem Fukushima-Tsunami, der etwa 20 000 Menschen das Leben gekostet hat, sind noch keine 15 Jahre vergangen.

In "Suzume" berührt Shinkai die Tragödie nun zum ersten Mal konkret. Der damalige durch ein Erdbeben ausgelöste Tsunami hat auch das Leben seiner Protagonistin überrollt, als sie noch ein Kind war. "Das Gewicht der menschlichen Gefühle" ersticke das Land, sagt Sōta, der fremde junge Mann, dem sie in die Ruinen gefolgt ist. Suzume und er ziehen gemeinsam los, um weitere Erdbeben zu verhindern.

Bald tauchen weitere magische Portale in Ruinenstädten auf. Sōta ist als "Schließer" dafür zuständig, sie zu versiegeln und dadurch den Wurm vom Eindringen in die Welt der Sterblichen abzuhalten. Aber dann wird der junge Mann von einer sprechenden Katze in einen gelben, sprechenden Kinderstuhl verwandelt. Der männliche Held, bestimmt dazu, das Land zu retten, braucht nun die Hilfe einer Siebzehnjährigen. Er braucht jemanden, der ihn trägt.

Shinkais Film ist ein ehrgeiziges Unterfangen - und es gelingt ihm nicht immer, die zahlreichen Motive und Anspielungsebenen, die unterschiedlichen Tonlagen des Märchen- und des Genrefilms zu einem harmonischen Bild zu verbinden: sprechende Möbel, sprechende Tiere, ein "Sailor Moon"-artiger Glitzerschlüssel, eine wurmartige Gottheit und immer wieder japanische Schlager. "Suzume" ist ein Film, der vieles gleichzeitig sein will.

Die Bildkompositionen aber sind liebevoll detailliert, die Dialoge verströmen eine heitere Unschuld. Die Geschichte nimmt auch die kleinen Katastrophen und Ablenkungen im Leben eines jungen Menschen ernst. Die Leichtigkeit, die sie erzeugen, wird dringend gebraucht auf dieser Reise in den Nationalschmerz Japans.

Sie endet mit Bildern, bei denen einem der Atem stockt: eine brennende japanische Stadt in der Zwischenwelt jenseits der Portale, der Heimat des Wurms. Wer im christlichen Kulturkreis sozialisiert wurde, sieht hier eventuell die Hölle. Für Japaner hingegen dürfte sich darin - ähnlich wie bei den Naturkatastrophen in Shinkais Filmen - etwas Konkretes, der realen Welt Entnommenes darstellen: die Feuerblitze, die sie entzweirissen. Hiroshima und Nagasaki.

In dieser Gleichzeitigkeit besteht hier die Kunst: eine junge Frau, die mit Tod und Verlust ringt, und nebenher immer mal wieder mit einem sprechenden Stuhl flirtet. Das Leben ist halt chaotisch. Umso mehr, wenn man jung ist.

Suzume, Japan 2022 - Buch und Regie: Makoto Shinkai. Animation: Masayoshi Tanaka, Takumi Tanji, Ken'ichi Tsuchiya. Wild Buch, 122 Minuten. Kinostart: Kinostart: 13. April 2023.

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