Entdecker und Erkunder:Die ganze Welt ein Stoff

China Daily Life

Abenteuer, die erzählt werden müssen, erlebt man in China, in der Arktis, in entlegenen Bergregionen - und in der Nachbarschaft.

(Foto: Kevin Frayer/Getty)

Von Homer über Marco Polo und Herman Melville hin zu Christoph Ransmayr: Viele Autoren erzählen von Reisenden und Entdeckern. Gleich, ob deren Ziel in weiter Ferne oder in nächster Nachbarschaft lag.

Von Harald Eggebrecht

Überall hin ist der Mensch vorgedrungen: In die tiefsten Urwälder hat er sich gewagt; die höchsten Höhen hat er erklommen; über die weitesten, blauesten Ozeane, ob bei lähmender Windstille oder im tosenden Taifun ist er gesegelt; keine noch so abgelegene Insel, die er nicht betreten hätte; selbst die schaurig-eisigen Einsamkeiten von Arktis und Antarktis sind nicht sicher vor seiner Neugier; die trockensten und sandigsten Wüsten hat er bei glühender Sonne durchquert und die letzte, verborgenste Oase erreicht.

Wenn er dann aus unwirtlichsten Gegenden oder aus paradiesischen Gefilden, von wahnwitzigen Bergersteigungen oder tollkühnen Weltumrundungen zurückkehrt, muss und will er davon erzählen, was er gesehen, gehört, gefühlt, gerochen und geschmeckt, mit einem Wort, was er erlebt hat. Schon entstehen vorm inneren Auge der Zuhörer jene fernen Gegenden, ihre Gefahren und Schönheiten, ihr Licht und ihre Finsternisse, ihre Einzigartigkeiten und Unvergleichbarkeiten, ihre Farben, Gerüche, Lüfte und Winde, ihre Tiere und Pflanzen und ihre Bewohner. Denn auch deren Dörfer und Städte gehören dazu.

Fernweh und Heimweh gehen in solchen Erzählungen, Berichten und Beschreibungen eine einmalige, Zuhörer und Leser ergreifende Verbindung ein; und mancher von ihnen beginnt selbst von großer Ausfahrt, Abenteuern für Leib und Seele zu träumen, dabei völlig vergessend, welche womöglich tödlichen Strapazen auf ihn warten bei der Erfüllung solcher Träume. Die Mühen und Qualen sorgen später allerdings dafür, dass auch der weitest ausgreifenden Traumreise bei ihrer Verwirklichung die unausweichlichen Härten des Realitätsprinzips innewohnen.

Man kann es einfach sagen: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Die Reise muss nicht in fernste Ferne führen, schon der Besuch beim Nachbarn kann Stoff für einen ganzen Roman liefern. Oder man beginnt großtönend, um eine ungeheure Geschichte von Irrfahrten, Liebesverstrickungen, Mordattacken und am Ende glücklicher, auch schwer erkämpfter Heimkehr zu entfalten:

"Nenne mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,/ Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,/ Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,/ Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet,/ Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft."

So hebt Homers "Odyssee" an, deren erste Niederschrift bis ins achte vorchristliche Jahrhundert reicht. Die Odyssee wie auch das mindestens anderthalb Jahrtausende ältere Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien sind Urformen all jener Literatur, in der die ganze Welt enthalten ist, die äußere mit all ihren Fährnissen und die innere mit allen Versuchungen, Enttäuschungen und Hoffnungen in der Seele derjenigen, die Abenteuer erleben.

Daher sind fiktionale wie echte Seefahrer und Ausreisende, vom märchenhaften Sindbad aus "1001 Nacht" bis zum mittelalterlichen Venezianer Marco Polo, der im damals sagenhaften China gewesen sein wollte, gewissermaßen Garanten von Welterzählungen. Man denke an die unerschöpfliche Welthaltigkeit, die Herman Melville mit der Jagd nach dem weißen Wal in seinem "Moby Dick" Mitte des 19. Jahrhunderts erschuf. Oder an Sten Nadolnys wundersame "Entdeckung der Langsamkeit". In diesem Roman zu Gestalt und Leben des John Franklin - Teilnehmer an der Schlacht von Trafalgar, Gouverneur von Tasmanien, auf der Suche nach der Nordwestpassage den Tod findend - verschmilzt Nadolny Historisches und Erfundenes so unmerklich, dass eine eigene Welt entsteht. Der Amerikaner T. C. Boyle entwickelt in "Wassermusik" aus den Expeditionen des Mungo Park ein wildes Panorama von Triumph, Liebe, Tod und Teufel in Afrika. Ernst Augustin verwandelt in "Mahmud, der Schlächter" dessen Eroberung Indiens in das bengalisch leuchtende Gemälde eines surrealen Orients.

Wann immer er spricht - in seiner Geschichte, in seiner Sprache muss der Erzähler alle Welt noch einmal erfinden

Nichts muss selbst erlebt und erduldet sein. Jonathan Swifts Gulliver reist in satirischer Schärfe durch irre, sehr wohl erkennbar als hiesige Welten. Cervantes' Don Quixote reitet mit Sancho Pansa in eine von ihm ersponnene Ritterwelt, deren Irrealität ihm schmerzhaft beigebracht wird. Nicht zu vergessen jene fabelhaften Reisen und Abenteuer, wie sie der sächsische Fantast Karl May unermüdlich aus seinen Wunschvorstellungen kreierte. Überall auf der Welt zu sein, ohne dort gewesen zu sein - das bedarf wahrer Schöpferkraft.

Am Ende kann man es nicht besser beschreiben wie Christoph Ransmayr, der beides in sich vereint, erkundender Reisender zu sein, um aus diesen Erfahrungen von Welten zu erzählen, die unbedingt die seinen sind, ob in den "Schrecken des Eises und der Finsternis", in "Die letzte Welt" oder im "Atlas eines ängstlichen Mannes", um nur drei Werke zu nennen. In seiner Dankesrede für den Franz-Kafka-Preis 1995 sagte er: "Wann immer er spricht - in seiner Geschichte, in seiner Sprache muss der Erzähler alle Welt noch einmal erfinden, noch einmal und immer wieder erschaffen und darf dabei doch nicht viel mehr voraussetzen als die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, seiner Leser, nichts als die Stille, in der er endlich zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben beginnt."

Christoph Ransmayr, Cox oder der Lauf der Zeit, 15.11., 20 Uhr, Literaturhaus

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: