Essay:An der Pappel

Enrico Deaglio arbeitet einen Fall von Lynchjustiz gegen italienische Einwanderer in Amerika auf.

Von Maike Albath

Auf den sizilianischen Obstverkäufer Frank Defatta wirkt die Sache wie ein schlechter Scherz: Wollen die Einwohner von Tallulah im US-amerikanischen Louisiana, die sich seit Jahr und Tag bei ihm mit Melonen, Zitronen und Orangen versorgen, ihn jetzt wirklich aufknüpfen? An einer Pappel? Wegen einer entlaufenen Ziege, die auf der falschen Wiese Gras geknabbert hat? Er wendet sich ungläubig an die finstere Menge und beteuert seine Unschuld. Doch dann ist der kurze Moment des Innehaltens vorbei, und Frank, der eigentlich Francesco heißt und aus Cefalù stammt, baumelt an dem improvisierten Galgen.

Binnen weniger Stunden folgen seine beiden Brüder sowie ihr Freund und Landsmann Rosario Fiduccia und ein 23jähriger Neffe, der gerade erst angekommen ist und kaum ein Wort versteht. Es ist der 20. Juli 1899, und die Bürger von Tallulah stellen die Leichen am Bahnhof aus. Jeder darf sie schänden. Schließlich sollen die Sizilianer eine Verschwörung angezettelt haben und auf Doktor Hodge losgegangen sein, weil der ihre Ziege erschossen hatte. Die Sizilianer aus Cefalù wurden gejagt, ins Gefängnis geworfen, dort aufgespürt, nach draußen gebracht und hingerichtet. Nur ein Schwager mit seinem Sohn entkam der "geordneten, schweigsamen, aber höchst entschlossenen" Menschenmenge, wie es einen Tag später in der Zeitung heißt, und floh über den Fluss.

Eher zufällig stieß Enrico Deaglio, Jahrgang 1947, als ehemaliger investigativer Journalist beim italienischen Fernsehen in Recherchen geübt und wegen seiner Ehe mit einer Amerikanerin auch in den USA verwurzelt, auf diesen spektakulären Fall von Lynchjustiz. Er wurde neugierig, vertiefte sich in die vorhandenen Dokumente, forschte in Archiven, sichtete die Berichterstattung in der amerikanischen und italienischen Tagespresse und fand eine Fülle von Materialien, die dem Schicksal der Defattas etwas Emblematisches geben.

Ein zeitloses Beispiel für die grausamen Mechanismen der Migration

Die fünf gelynchten Männer werden zu einem zeitlos gültigen Beispiel für die grausamen Mechanismen der Migration und die irrationalen Ängste, die Minderheiten auslösen. "Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika" lautet der Titel des fesselnden Essays, der jetzt in der neu gegründeten Edition Converso auf Deutsch erschienen ist. Die historische Rekonstruktion der Geschehnisse kommt erzählerisch daher, immer wieder gibt es überraschende Brückenschläge zur Kunst, Literatur, Wissenschaft und Zeitgeschichte.

Essay: Ein Mob versammelt sich am 14. März 1891 vor einem Gefängnis in New Orleans und erschlägt 11 Italiener, die zuvor von einem Verbrechen freigesprochen worden waren. Das war der bisher berühmteste Lynchmord in der Zeit der von Enrico Deaglio beschriebenen anti-italienischen Ressentiments.

Ein Mob versammelt sich am 14. März 1891 vor einem Gefängnis in New Orleans und erschlägt 11 Italiener, die zuvor von einem Verbrechen freigesprochen worden waren. Das war der bisher berühmteste Lynchmord in der Zeit der von Enrico Deaglio beschriebenen anti-italienischen Ressentiments.

(Foto: Universal Images Group via Getty)

Enrico Deaglio, in Italien ein bekannter Kolumnist und Verfasser etlicher Bücher, bemüht sich in einem ersten Schritt, die Fakten aufzudecken. Darauf aufbauend entwickelt er dann eine schlüssige Hypothese, wieso zuvor unbescholtene Ladeninhaber auf einmal isoliert dastanden und zu Opfern eines kollektiven Gewaltaktes werden konnten. Vermutlich gab es weder eine Ziege noch einen Angriff auf den Arzt.

Schließlich beleuchtet Deaglio auch die Lage in Sizilien nach der nationalen Einigung von 1861: Das junge Italien war von den vielen armen Bauern im Süden überfordert und unterstützte die Auswanderungswellen sogar. Amerikanische Firmenbosse reisten für eigentlich verbotene Anwerbungen extra nach Sizilien, wo sie den Körperbau der Anwärter prüften, ihre Muskeln abtasteten und ihnen das Paradies auf Erden versprachen. Äcker, reiche Ernten, ein freies Land, ein Auskommen für alle, der anpacken wollten.

Nichts davon stimmte. Die Neuankömmlinge erwartete Gelbfieber, Louisiana war ein vom Bürgerkrieg zerrütteter Staat, wo nach dem Ende der Sklaverei bis 1910 vier- bis fünftausend Schwarze gelyncht wurden. Seit der Befreiung der Sklaven gab es niemanden mehr, der die mühsame Zuckerrohrernte bewerkstelligen konnte, da kamen die Dagos, wie die sizilianischen Einwanderer abfällig genannt wurden, gerade recht. Die rund hunderttausend Sizilianer, die zwischen 1880 und 1900 in New Orleans eintrafen, nahmen den Platz der Sklaven ein, erhielten Knebelverträge und waren durch Schulden und Wucherdarlehen an ihre Arbeitgeber gebunden. Ihre Lage war erbärmlich.

Der Blutrausch schmiedete die Gemeinschaft zusammen, endlich hatte sie einen Sündenbock

Hinzu kam ein unbändiger Rassismus: Man habe nur die Norditaliener gewollt, die Nachkommen der Kelten, tönte ein einflussreicher Politiker 1890, denn die aus dem Süden stammten von Mauren und Piraten ab und gehörten zur "degenerierten lateinischen Rasse". Die schwarzen Locken, die olivfarbene Haut, die dicken Lippen - die Dagos galten in den USA nicht als Weiße. Dass einige der Sizilianer einen einträglichen Obst- und Gemüsehandel aufbauten, schürte den Hass noch.

Das Faszinierende an Deaglios "Wahrhaft schrecklicher Geschichte" ist nicht nur das Sujet, sondern auch die hybride Form. Dem Autor gelingen immer wieder überraschende Verknüpfungen, wenn er zum Beispiel das Foto des ermordeten Joe Defattas mit Antonello da Messinas "Porträt eines Unbekannten" vergleicht, das in Cefalù hängt und auf einen Roman von Vincenzo Consolo verweist. Eindrücklich sind auch die Schilderungen der Lebensbedingungen in New Orleans.

Essay: Das Magazin Harper’s Weekly vom 5. Juli 1895 zeigte die späteren Lynchmordopfer Frank und Joe Defatta und Rosario Fiduccia.

Das Magazin Harper’s Weekly vom 5. Juli 1895 zeigte die späteren Lynchmordopfer Frank und Joe Defatta und Rosario Fiduccia.

(Foto: gemeinfrei)

Am erschütterndsten aber ist die Erkenntnis, dass die Jagd auf die gut integrierten Dagos für die - weißen - Einwohner von Tallulah eine Funktion erfüllte: Der Blutrausch schmiedete die Gemeinschaft zusammen. Endlich hatten sie einen Sündenbock - die Störenfriede aus dem fernen Sizilien. Sie waren ja nicht einmal weiß. Immer wieder drängen sich Parallelen zum heutigen Italien auf, das mittlerweile ersehntes Ziel Tausender afrikanischer Flüchtlinge ist. Deaglio reißt die Bezüge zu Beginn an und lässt sie dann klugerweise nur indirekt mitschwingen. Im Original erschien der Band 2015 und damit lange vor Amtsantritt des Innenministers Matteo Salvini. Warum dessen Parolen so verfangen, lässt sich mit Blick auf die Defattas aber erklären. Nur haben sich die Rollen jetzt umgekehrt.

Enrico Deaglio: Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika. Essay. Aus dem Italienischen von Klaudia Ruschkowski. Edition Converso, Bad Herrenalb 2019. 206 S., 23 Euro.

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