Süddeutsche Zeitung

Englisches Sachbuch:Der Osten als Falle

Die "Shortest History of Germany" des britischen Germanisten James Hawes endet als Hommage an die aktuelle Bundesrepublik.

Von Alexander Menden

Das wichtigste Datum der deutschen Geschichte zwischen der Krönung Karls des Großen und der Gründung des Norddeutschen Bundes war der 10. April 1525. So zumindest sieht es James Hawes, Autor der kürzlich in Großbritannien erschienenen "Shortest History of Germany". An diesem Tag konvertierte Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Hochmeister des Deutschen Ordens, zum Protestantismus. "In jener seltsamen Kolonie jenseits der Elbe gab es jetzt erstmals seit dem Sieg Karls des Großen über die Sachsen ein deutsches Gebiet, das jede Treuepflicht gegenüber der römischen Kirche oder dem römischen Kaiser ablehnte", schreibt Hawes. Da ist er auf Seite 70 seiner ambitionierten, meinungsstarken und unterhaltsamen Geschichte Deutschlands. Auf insgesamt nur 226 Seiten rast der studierte Germanist Hawes durch die Jahrhunderte von 500 vor Christus bis zur Gegenwart. Die alles beherrschende Frage ist dabei stets, ob Deutschland dem Westen oder dem Osten zuzurechnen sei. Um die Antwort kurz zu machen: Für James Hawes ist Deutschland eindeutig Teil des Westens.

Deshalb rechnet er so ziemlich alle Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte dem unvernünftigen Drang zu, das deutsche Territorium zu weit nach Osten zu erweitern. Für Hawes ist die Elbe der deutsche Schicksalsfluss, eine Sollbruchstelle zwischen West- und Ostdeutschland. Hier hatten schon Drusus und Germanicus klugerweise haltgemacht, denn was sich jenseits dieses Stromes ereignet, wird sich meistens als schädlich erweisen: "Eine Grenze, die man zwar zu überschreiten versucht ist, wo es aber das Wichtigste ist, die Barbaren aus dem Osten fernzuhalten."

Hawes macht sich zwar nicht die Konrad Adenauer zugeschriebene Sentenz zu eigen, jenseits der Elbe beginne die asiatische Steppe. Aber für ihn sind es vor allem die Konflikte in Ostelbien, welche die deutsche Geschichte nachhaltig negativ geprägt haben. Dass angesichts der Kürze des Buches die historische Komplexität auf der Strecke bleibt, führt oft zu vereinfachenden, in ihrer Prägnanz aber erfrischenden Schlussfolgerungen. Martin Luther etwa war laut Hawes nichts weiter als ein willfähriger Vordenker und Propagandist des Adels, der dem Kaiser und der katholischen Kirche Macht und Land entreißen wollte. Deshalb ist auch jener 10. April 1525 so wichtig, denn seiner Ansicht nach wurden "die politische Reformation und Preußen im selben Augenblick geboren, als direkte Herausforderung an das große Kontinuum des Westens".

Den Dreißigjährigen Krieg handelt Hawes auf drei Seiten ab, um rasch beim eigentlichen Schurken der deutschen Geschichte zu landen, beim militaristischen, osteuropäischen Monstrum Preußen. Mehr als die Hälfte seines historischen Abrisses verwendet Hawes darauf zu schildern, wie Preußen, Kernland des protestantischen Ostens, im 19. und 20. Jahrhundert den Süden und Westen des deutschen Territoriums ein ums andere Mal mit ins Verderben zerrte. Philosophisch fußt das preußische Großmachtprojekt auf Hegel, dessen politisches Denken so zusammengefasst wird: "Theorie: Radikaler Glaube an Veränderung durch Konflikt + Praxis: Kult der Staatsmacht = Perfekte Philosophie für linke und rechte Extremisten".

Die deutsche Teilung nach dem Krieg sieht Hawes als Glücksfall

Bismarcks "tödliche Mischung aus Junker-Räuberei und modernistischem Verständnis" habe zur preußischen Expansion geführt. Von 1871 an sei der deutsche Südwesten, "ein konstitutiver Teil Westeuropas seit 100 nach Christus", beherrscht worden von "einer Macht jenseits der Elbe, die erst dreieinhalb Jahrhunderte existiert hatte". Der deutsche Antisemitismus (die mittelalterlichen Pogrome kommen nicht vor) entsteht bei Hawes erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit Heinrich von Treitschkes Schrift "Unsere Aussichten" als Manifest. Der Erste Weltkrieg ist vor allem ein Versuch der preußischen Junker, ihre Vormachtstellung zu sichern. Hitler wurde vom überwiegend protestantischen Ostelbien zum Reichskanzler gewählt, das katholisch geprägte Deutschland musste nolens volens mitmachen. Die Barbarei der Wehrmacht an der Ostfront erscheint als konsequente Fortsetzung der Geschichte deutscher Expansion im Osten.

Die deutsche Teilung nach dem Krieg stellt für Hawes folglich einen Glücksfall dar. Nach der Aufteilung durch die Alliierten sieht Mitteleuropa plötzlich wieder so aus wie im Jahr 814, beim Tod Karls des Großen, mit einer sauberen Unterteilung in Ost und West. "Adenauers Deutschland ähnelte sehr dem römischen Plan für Germania, Karls Deutsches Reich und Napoleons Rheinbund". Ostdeutschland hingegen veränderte sich nicht durch die russische Besatzung, "die Russen besetzten es, weil es schon immer anders gewesen war". Kein Wunder, dass Hawes die Wiedervereinigung mit wenig Enthusiasmus beschreibt. Für ihn bleiben die neuen Bundesländer Dunkeldeutschland.

"The Shortest History of Germany" scheitert letztlich weniger an ihrer Kürze, als an der monokausalen Betrachtungsweise ihres Autors. Gerade dieser Blickwinkel aber macht das Buch für den deutschen Leser bemerkenswert. Denn für Hawes ist Deutschland am Ende "Europas größte Hoffnung". Die aktuelle Bundesrepublik sieht er in der Tradition des "wahren, historischen Deutschland", dem "Staatshörigkeit, puritanischer Eifer und narbengesichtiger Militarismus stets fremd waren".

So etwas wäre noch vor wenigen Jahren in einem noch so wohlmeinenden britischen Buch über deutsche Geschichte undenkbar gewesen. Es zeigt nicht nur, wie drastisch sich das Bild Deutschlands gewandelt hat, sondern umreißt auch die Rolle, in der liberale Kräfte in anderen Ländern es zunehmend sehen wollen: Deutschland "sollte als das behandelt werden, und als das handeln, was es schon immer war: eine mächtige Nation im Herzen des Westens".

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SZ vom 08.06.2017
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